Wie stets durchleuchtet der Merkur das Themenfeld vielfältig
© Klett-Cotta 2013
Merkur . Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Nr. 773/ 774
Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft.
Hrsg. von Christian Demand, Klett-Cotta 2013, 234 Seiten, Paperback, 21,90 Euro.
»Das Wir entscheidet« titelte die SPD auf ihren Wahlkampf-Plakaten – und wurde nicht verstanden. Oder der ältesten deutschen Partei wurde nicht geglaubt, das jedenfalls sagt das Wahlergebnis.
Was ist das überhaupt: ‚Wir‘?
Der Frage, was Gemeinschaft in einer zunehmend individualistischer werdenden Gesellschaft bedeuten könnte, stellt die neueste Doppelnummer der renommierten »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken«, wie der Untertitel des Merkur lautet. Herausgeber Christian Demant fügt den weiten Rahmen des Themas in seinem Vorwort:
»Wir leben in einer individualistisch ausgerichteten, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft, die im Ökonomischen marktförmig regelt, was sich marktförmig regeln lässt, und die nicht nur auf dem Feld der Ästhetik wie selbstverständlich mit Kontingenz, also dem Fehlen verbindlicher Werte, umzugehen versteht – eine Gesellschaft, die an ihren neuralgischen Punkten, anders als von Kummunitaristen und verschiedenen Spielarten der Konservativen wie der Linken gern behauptet wird, auf Gemeinschaft im emphatischen Sinne im Ganzen gut verzichten kann, oder genauer: um ihrer Kontingenzfähigkeit willen sogar verzichten können muss.«
Dieter Grimm leitet die stattliche Merkur-Ausgabe ein mit Ausführungen zum Thema, dass die zunehmende Heterogenität der Gesellschaft jedwede Integration erschwere. Doch was bedeutet Integration eigentlich? Der Autor seziert den Wertekanon der Bundesrepublik, so es diesen überhaupt gibt. Sein Beitrag ist symptomatisch für die gesamte Ausgabe: Viele Fragen werden aufgeworfen. Positiv: Es gibt keine vorschnellen und billigen Antworten. Negativ: Zuweilen wünschte man sich doch den nächsten Schritt. Mehr Substanzielles, den Mut, zumindest einen Versuch zu wagen, Antworten zu geben.
Aber immerhin: Einem liberalen Geiste verpflichtet, stellen die Autoren sich nicht lehrmeisterlich über den Leser. Sie werfen Thesen auf, geben zu denken. Das ist in der Besserwisser-Nation Deutschland schon ganz angenehm.
Rainer Hank schildert die Deutschen als eine Nation mit verlorener Unschuld. Sein historischer Rückblick will aufzeigen, »warum das gegenseitige Vertrauen in Europa so rasch verschwinden konnte«. Wohltuend ist, dass das Element der Heimat, von Natur und generationenalter Bindung, nicht fehlen: Cord Riechelmann beschäftigt sich mit »Luft, Wasser, Wald und Bindung« als »Elemente einer Politik der Grundgüter«. Er kommt zu dem Schluss, dass man die Politik »immer wieder an das Bedürfnis nach Fürsorge erinnern« müsse.
Michael Rutschky bereichert den Merkur seit langem mit seinen Gegenwarts-Notaten. In dem Kontext der Suche nach der Gemeinschaft schreibt er: »Wir in Berlin wünschen uns eine architektonische Wiedergeburt unserer Stadtmitte. Sie müsste den Einheimischen wie den Besuchern die ganze Stadt erfahrbar machen, zur Anschauung bringen. Wir müssten in den Straßen und Plätzen unsere eigene urbane Mitte finden können, so wie es in Berlin vor den Zerstörungen des Krieges und des Sozialismus gelang.«
Stilvoll endet der Merkur 773/ 774 mit Franz Kafkas Zeilen über fünf Freunde: »… Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet…«