Michael Peppiatt – In Giacomettis Atelier

Einer der größten Giacometti-Kenner schildert einfühlsam seinen Weg zu dem Künstler
© Deutscher Kunstverlag 2013

 

 

Michael Peppiat, In Giacomettis Atelier. 207 Seiten mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, Deutscher Kunstverlag 2013, 48 Euro.

 

Alberto Giacomettis Atelier gilt wie kaum ein anderes in der Kunst der jüngsten Moderne als Brutstätte, als magisches Refugium des Künstlers. Heute − 45 Jahre nach dem Tod des manischen Schöpfers − interpretiert man Giacomettis Œuvre wie sein Leben durch den Blick in dieses winzige, heruntergekommene Atelier in der Rue Hippolyte-Maindron 46 außerhalb von Montparnasse.


Hier zog Alberto Giacometti 1927 ein. Der in der Schweiz geborene Giacometti (1901-1966) war 1922 nach Paris gekommen. Nachdem er die erste Zeit in billigen Hotels gewohnt hatte, bezog er 1924 sein erstes eigenes Atelier. Das in der Rue Hippolyte-Maindron  war sein drittes – und sollte für den Rest seines Lebens sein letztes werden.


Anlässlich der drei Ausstellungen im Bucerius Kunst Forum (noch bis 19. Mai 2013), der Hamburger Kunsthalle (noch bis 20. Mai 2013) und der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München (bis 30.Mai 2013) mit Werken Giacomettis veröffentlicht der Deutsche Kunstverlag In Giacomettis Atelier von Michael Peppiatt nun in Deutsch. Der Autor, in London lebender Kunstkenner, -Autor und -Kurator, begab sich 1965 auf die Spuren Giacomettis. Spannend schildert Peppiatt, wie sein Mentor Francis Bacon ihm aus London ein ‚Empfehlungsschreiben‘ für dessen Freund Giacometti nach Paris mitgab. Denn der junge, aufstrebende Kunst-Journalist kannte in Paris niemanden. Bacon nahm spontan eine mit Farbe verschmierte Ausgabe von Paris Match und riss eine Doppelseite mit Kriegs-Photos heraus. Dann schrieb er, wie Peppiatt berichtet, mit grünem Filzstift sorgfältig in seiner geschwungenen Handschrift quer über die Bilder: »Mon cher Alberto je voudrais introduire mon grand ami Michael Peppiatt qui arrive maintenant à Paris j’espère de vous voir bientôt Francis Bacon.«





Peppiatt erzählt anschaulich, wie er in Paris um das Haus Giacomettis herumschlich, nachdem er es entdeckt hatte. Immer wieder ging er mit der beschriebenen Zeitung dorthin. Doch zu stören, traute er sich nicht. Kurze Zeit darauf berichteten ihm seine Kollegen bei der Zeitschrift, wo er nun arbeitete, Giacometti sei gerade nach schwerer Krankheit verstorben.


Dies ließ bei dem Kunst-Kritiker das Interesse an dem nicht mehr Angetroffenen erst richtig entflammen. Eindringlich schildert er in seinem Buch, wie er keine Gelegenheit ausließ, eine Giacometti-Ausstellung zu besuchen oder ehemalige Bekannte nach dem Künstler auszufragen, dem etwas Geheimnisvolles umgeben haben musste. So kann er nun − ein halbes Jahrhundert später − einen Menschen anschaulicher werden lassen, der heute ob des immensen Wertes seiner Werke beinahe entrückt scheint. So erfährt der Leser von den häufigen Spaziergängen Giacomettis mit dem engen Freund Samuel Beckett, die meistens schweigend verliefen.


Das winzige Atelier war für Giacometti der kleine, geschützte Raum, in dem er sich den Menschen, die er portraitierte, nähern konnte. Hier konnte er ihnen tief in die Augen schauen. In dieser Umhüllung ließen sich Entwürfe wagen – und die allermeisten wieder vernichten. Fast genau 40 Jahre lebte und arbeitete er hier. Unterbrochen durch ritualisierte Flaniergänge über den Montparnasse oder auf der Suche nach einer Frau für die Nacht. Selbst für einen so hoch angesehenen Künstler wie Giacometti ist der Nimbus dieses kleinen, staubigen und vermüllten Refugiums ungewöhnlich. Dies liegt aus heutiger Sicht auch daran, dass dieser Ort ein Magnet für befreundete Künstler war: Picasso und Braque gingen ein und aus. André Breton und Jean-Paul Sartre waren häufig Gast und konnten mit ihren literarischen Schilderungen früh eine Magie dieses Ortes schaffen.


Giacometti selbst gestand gegen Ende seines Lebens einem US-amerikanischen Journalisten, was diese Künstler-Höhle ihm bedeutete: »Seltsam, als ich 1927 dieses Atelier mietete, dachte ich, es sei winzig. Es war die erste Gelegenheit, die sich bot, ich hatte keine Wahl. Ich wollte so bald als möglich wieder ausziehen, da es so eng war – nicht mehr als ein Loch. Aber je länger ich blieb, desto größer wurde es. Hier habe ich alles machen können. Hier habe ich auch die großen stehenden Figuren gemacht, die zum ‚Schreitenden Mann‘ gehören. Einmal [1959] hatte ich drei sehr hohe Figuren […] zur gleichen Zeit da drin. Und es blieb noch Platz zum Malen neben ihnen.«


Das beschreibt sehr intim die Möglichkeiten, die sich für Giacometti über die Jahre in diesem speziellen Raum entwickelten. Das ästhetisch gestaltete Buch ist für jeden, der in einer der Ausstellungen gewesen ist und nun von Giacometti infiziert wurde, ein absoluter Gewinn. Neben der einfühlsamen Schilderung von Michael Peppiatt gefallen die diversen Schwarz-Weiß-Photos aus dem Atelier. Sie sind von keinen Geringeren als beispielsweise Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau oder Picassos Frau Dora Maar oder Ernst Scheidegger.