Harry Graf Kessler – Erinnerungen eines Europäers
256 Seiten, gebunden in Leinen, mit Leseband
L.S.D. Verlag 2019, 24 Euro.
Harry Graf Kesslers erster Erinnerungsband erscheint neu beim L.S.D. Verlag. Die einzigartige Schilderung der aristokratisch-mondänen Gesellschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts gemahnt unsere aktuelle Kultur an europäische Ideale.
Harry Graf Kessler (1868-1937) war eine absolute Ausnahmepersönlichkeit. Wir haben im DANDY-CLUB bereits mehrere Bände seines opulenten Tagebuches vorgestellt.
Harry Graf Kessler – Das Tagebuch – 1. Band
Harry Graf Kessler – Das Tagebuch – 6. Band
Harry Graf Kessler – Das Tagebuch – 7. Band
Harry Graf Kessler – Das Tagebuch – 9. Band
Kessler wurde in Paris geboren und wuchs in Frankreich und England auf. Seine Mutter Alice Harriet Gräfin Kessler war die Tochter von Henry Blosse-Lynch, einem Offizier der Royal Navy, der es bis zum Befehlshaber der anglo-indischen Flotte in Bombay gebracht hatte. Sein Vater, Adolf Wilhelm Kessler war ein Nachfahre des Theologen und Reformators Johannes Kessler (1502–1574) aus St. Gallen. Er war als Banker zu erheblichem Vermögen gekommen.
Seine Ausbildung in mehreren Ländern, seine mehrsprachige Erziehung und das soziale Umfeld prädestinierten Kessler schon früh zu einer außerordentlichen Karriere. Ursprünglich wollte er dem Diplomatischen Dienst beitreten, wo er jedoch abgelehnt worden ist. Das war vielleicht auch gut so, denn so konnte Kessler später konsequent seinen Leidenschaften frönen. Kessler war dabei stets von einem allumfassenden Blick begleitet. Wenn er Bücher konzipierte, dann ließ er zum Text eine passende Schrift entwerfen, einen adäquaten Einband und Grafiken. Er engagierte sich für Kunst-Zeitschriften und war ein bekannter und großzügiger Mäzen. Später versuchte er sich ohne Auftrag in diplomatischer Mission, verkennend, dass es dabei weniger um ehrlichen Ausgleich von Mächten und Nationen geht als meist um blindes Machtkalkül.
Der nun wieder publizierte Band Erinnerungen eines Europäers hieß bei seiner Erstveröffentlichung 1935 Gesichter und Zeiten. Er erzählt die Schul- und Studienjahre. Besonders aufschlussreich sind die Schilderungen seiner Mutter, die eine berühmte Gesellschaftsdame war und bereits in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts einen Salon in Paris führte, wo sie die Mitglieder der höchsten Kreise empfing.
Umso tiefer man in das Leben von HGK – wie er von Verehrern liebevoll genannt wird – eindringt, desto mehr drängt sich die Parallele eines anderen großen deutschen Dandys auf: Karl Lagerfeld. Beide hatten eine sehr gebildete Mutter, die sie zu Leistungen in Sprachen und Kunst animierte. Die Väter verdienten viel Geld, sodass es den Söhnen möglich wurde, ihren gewünschten Weg ohne Kompromisse einzuschlagen. Kessler verhöhnte die Bankgeschäfte seines Erzeugers, so wie Karl Lagerfeld die Dosenmilch seines Vaters.
Kein Wunder also, dass der vor einem Jahr verstorbene arbiter elegentiarum als Programm-Verantwortlicher für den L.S.D. Verlag, dieses besondere Buch auswählte. Es vermittelt einen einzigartigen Einblick in die Welt der mondänen High Society aus Wirtschaft, Politik und Kunst des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Es sollte dem Leser Anlass sein, sich mit HGK weiter zu beschäftigen.
Merci beaucoup Karl Lagerfeld und Gerhard Steidl!
© Matthias Pierre Lubinsky 2020