Rainald Goetz – loslabern




Der DANDY-CLUB rezensiert das neue Buch von Rainald Goetz: loslabern, Suhrkamp Verlag 2009, 187 Seiten, 17,80 Euro.


Rainald Goetz ist Zeuge. Zeitzeuge, sagt man heute wohl. Und er ist erschreckend ehrlich. Wahrscheinlich führt diese Offenheit zu seinen guten Auflagen. Da müssen die Herrschaften des Medienzirkusses erstmal gucken, wo ein Buchladen ist, sich einen oder mehrere Tage (je nach Umfang des gerade Veröffentlichten) krank melden (denn die meisten sind ja Angestellte – „Leitende“, versteht sich) und nachlesen, ob er sie vernichtet – sprich oft lebensnah beschrieben hat.


Um es vorweg zu nehmen: Echte verbale, nun literarische, hissy fits sind nicht drin im neuen tagebuchähnlichen loslabern. Loslabern erzählt in drei Kapiteln (1. Reise; 2. Herbstempfang 2008; 3. Der Jüngling) Geschichten aus »dieser grandios durchgeknallten Zeit« (Verlagstext). Es ist die Weiterschreibung von »Klage«, dem Berichtsband über den irrwitzigen Wahnsinn namens Leben aus dem vergangenen Jahr. Große Passagen des kleinen Bandes mit dem Untertitel »Bericht« sind Selbstgespräche/ Monologe/ Rechtfertigungen vor sich selbst und vor einer unbestimmten, unbekannten Leserschaft-Öffentlichkeit. Deren Motivation/ Hintergrund/ Motiv-? ist wohl jeweils die Höflichkeit/ Feigheit/ das Sozialverhalten seines Ich, das es ihm im Moment der Begegnung verbietet, dem Getroffenen zu offenbaren, dass dessen gerade Publiziertes für ihn absolute Scheiße darstellt.


Grandios ist ein Satz, der über zwei Seiten geht. Goetz trifft Sloterdijk. »Ich erzählte Sloterdijk (…) als wie unglaublich fürchterlich, falsch, im Gegenteil, als wie unglaublich inspirierend ich seine hier in der neuen Revolutions-Faz unter irgendeinem neuerlichen Revolutionstitel neulich veröffentlichten Ideen zu der von ihm so genannten gebenden Hand, der nichtöffentlichen, der nicht nehmenden, der gebenden Hand also, gefunden hätte, vor allem natürlich dieses Bild mit den Händen, mit der Hand, diese Auswalzung des Begriffs von der öffentlichen Hand zu dem Bild von den gebenden und nehmenden Händen hätte es mir als Arzt und Hobbydarwin besonders angetan, damit könne man wirklich arbeiten, mit diesem Bild, mit diesen Händen, nur die von ihm mittels dieser herrlichen Hände herbeigezogenen Ideen müsste man sich wohl doch noch einmal ein bisschen genauer anschauen vielleicht (…)«


Grandios auch Goetzens Schilderung des für ihn traumatisch erlebten Herbstempfanges der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Durch Zufall stolpert er in einen großen Saal, wo Kanzlerin Merkel vor der devot-andächtig lauschenden Führungsmannschaft der Zeitung doziert. Eigentlich suchte der studierte Arzt Goetz ja nur die Garderobe, weil er in seiner Manteltasche die Zigaretten vergessen hatte. Aber nun wird er durch diesen Zufall Zeuge einer von ihm so wahrgenommenen Unterwürfigkeit, die ihn erschüttert. Rainald Goetz schreibt an einer Stelle von dem »extremen Wirklichkeitsüberdruck« dieser Tage. Das könnte als Überschrift stehen über dem Bericht einer beschleunigten Welt, in der viele immer hektischer agieren, ohne dass ihnen die totale Bedeutungslosigkeit ihres Tuns bewusst wird.


Mitte der neunziger Jahre klebte an einer heruntergekommenen Haustür im Berliner Prenzlauer Berg ein Zettel. Auf ihm informierte ein Mieter seine Nachbarn über den Tod des Angehörigen und Ort und Zeit der Beerdigung. Einer schrieb mit Edding unter die Todesnachricht: »Interessiert ja tierisch!« Unter die Beerdigungsdaten: »Komme auch«.