Ein Handbuch zur Piraterie: Libertalia – Die utopische Piratenrepublik
© Matthes & Seitz Berlin Verlag 2014
Daniel Defoe, Libertalia – Die utopische Piratenrepublik
Herausgegeben von Helge Meves, aus dem Englischen von David Meienreis und Arne Braun, 238 Seiten, gebunden, 22,90 Euro.
Der Matthes & Seitz Berlin Verlag bringt mit Libertalia – Die utopische Piratenrepublik ein kleines Handbuch über die Piraterie. Der Titel täuscht ein wenig über dessen Grandiosität: Es geht um viel mehr als eine Erzählung Daniel Defoes.
Der abenteuerlustige Edelmann Mission und der desillusionierte Priester Caraccioli geraten bei einer ihrer ersten Fahrten noch als Volontäre in ein Gefecht. Ihr Schiff scheint dem nicht gewachsen zu sein. Der Erste und der Zweite Kapitän werden durch den Kampf getötet, dazu noch drei der Offiziere. Als die Führung ihres Schiffes vakant ist und der Untergang droht, reißt Mission die Befehlsgewalt an sich, ernennt seinen Verbündeten Caraccioli zum Ersten Offizier und führt das Schiff zum Sieg.
Nun sind sie im Besitz eines Schiffes, dessen Mannschaft sie führen. So stellt sich ihnen die klassische Seekriegsfrage: Sollen sie das Schiff den Eigentümern zurückgeben in der Hoffnung, von diesen adäquat belohnt zu werden? Sie entscheiden sich für die zweite Möglichkeit, bleiben autonom, frei und werden Piraten – allerdings mit hehren Zielen.
Sie verlesen der Mannschaft eine Grundsatzerklärung, die vor allem auf Freiheit und Gleichheit beruht. Jedem Mitglied wird freigestellt, mitzumachen oder das Schiff – ohne negative Konsequenzen – zu verlassen. Frauen und entlaufene Sklaven sind vollständig gleichgestellt. Die Beute wird gleichermaßen geteilt. Über Religion darf an Bord nicht gestritten werden.
Diese Grundsätze waren im 18. Jahrhundert sensationell. Daniel Defoes Erzählung erschien erstmals 1728. Allerdings spricht heute einiges dafür, dass sie gar nicht von diesem Autoren stammt. Das mindert ihre Substanz jedoch nicht.
Das sensationelle Buch wird zu einer Art kleinem Handbuch zur Piraterie, weil Herausgeber Helge Meves neben den beiden Kapiteln aus der Erzählung noch weitere Schlüsseltexte zum Verständnis der Piraterie und ihrer Geschichte abdruckt. Besonders aufschlussreich sind die Piratensatzungen. Erstaunlich ist zum einen, wie sehr sie sich gleichen, obwohl ihre Urheber weit voneinander entfernt agierten. Zum anderen erstaunt heute das Ausmaß ihrer Gesinnung aus echter Gleichheit und Freiheit. Zu Recht betont Helge Meves in seinen wertvollen Erläuterungen, dass die Piraten eine radikalere Demokratie praktizierten, »als es hundert Jahre später die Französische Revolution oder gar die Amerikanische fordern sollte, die die Sklaverei in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 noch in Verfassungsrang erhob«.
So beruht die in der Erzählung geschilderte Grundsatzerklärung auf tatsächlichen Piratensatzungen, wie sie zu der Zeit bestanden: Alle an Bord hatten gleiches Stimmrecht, über alle wesentlichen Handlungen wurde abgestimmt und nicht etwa vom Kapitän befohlen, geflohene Sklaven und Frauen waren vollständig gleichgestellt und nicht zuletzt wurde der individuelle Besitz beschränkt.
Ergänzt wird der liebevoll gestaltete Band durch eine kurze aber heftige Schilderung der Piratenrepublik auf Madagaskar von Jacob de Bucquoy. Der Holländer war Landvermesser im Auftrag der Ostindischen Compagnie und bereiste über 16 Jahre die Region. Er lässt an den Piraten kein gutes Haar und beschreibt sie als undisziplinierte, ungebildete Horde von Kriminellen.
In einer Zeit, wo wieder Religions-Terror herrscht, ist dies grandiose Buch ein Anstoß zu fragen, ob es nicht auch andere Lebensmodelle geben könnte als den US-amerikanischen Kapitalismus oder den mittelalterlichen Islamismus, die uns in ihre Zange nehmen.