Georges Didi-Hubermans philosophische Studie: Die verirrten Seelen suchen das Licht – und verbrennen darin
Georges Didi-Huberman, Überleben der Glühwürmchen. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Wilhelm Fink Verlag, München 2012, 145 Seiten, Ppb., 24,90 Euro.
Was ist in der Hölle?
Dante stellte sich einst vor, im Höllenkries der »trügerischen Ratgeber« würden sich die kleinen Lichter der bösen Seelen tummeln. Fernab vom großen und einzigartigen Licht, das uns im Paradies versprochen wird, sah Plinius der Ältere die Glühwürmchen sich dem Feuer nähern. Die schwachen und irrenden Seelen suchten Wärme und Licht, doch kämen sie ihnen in ihrem ungewissen Flug zu nahe, so würden sie verbrennen. Das Gleichnis der Glühwürmchen als ehemaliger menschlicher Seelen ist beinahe so alt wie die Eschatologie.
Nun scheint es heute, so Georges Didi-Huberman, die Neuzeit habe dieses Verhältnis von irrenden und rechten Seelen verkehrt: Es habe den Anschein, so der französische Philosoph und Kunsthistoriker in seinem gerade in Deutsch erschienenen Buch Überleben der Glühwürmchen, die trügerischen Ratgeber tummelten sich triumphierend in den hellen Strahlen, beispielsweise des Fernsehens – und nicht in der abgeschiedenen Dunkelheit. Über die gedankliche Perlenschnur von Paolo Pasolini (1922-1975) und Giorgio Agamben (geboren 1942) kommt er zu Walter Benjamin (1892-1940). Aber der Reihe nach.
Der italienische Filmregisseur Paolo Pasolini beobachtete ein Sinnvakuum, dass sogar nach dem Ende des Faschismus noch größer geworden sei. Das »von der Konsumgesellschaft geforderte Zwangsverhalten« habe das Bewusstsein des italienischen Volkes »umgemodelt, deformiert und zu einer Degradierung getrieben«, von der es kein Zurück mehr gebe. Denn selbst im Faschismus sei das äußere Verhalten noch völlig vom Bewusstsein getrennt gewesen.
Der italienische Religionsphilosoph Giorgio Agamben diagnostiziert in der Gegenwart eine vollständige Trennung von Herrschaft und Regierung und die Souveränität im Ökonomischen. In dieser Metaphorik erleideten die Völker dasselbe Schicksal wie die Glühwürmchen, so Didi-Huberman: sie verglühen.
Aber Didi-Huberman widerspricht jeglichem Kultur-Pessimismus. Der Professor an der Ecole des hautes études en sciences sociales in Paris hält sich lieber an Hannah Arendt und Walter Benjamin. Die Glühwürmchen – also für sie die ‚guten‘ Seelen – würden eine quasi unbegrenzte Ressource besitzen: den Rückzug. Und so entflammt er in seiner kleinen und fulminanten Schrift die Nichtteilnahme als Appell. Wäre der Rückzug keine Selbstbezogenheit, so liege in ihm eine »diagonale Kraft«. Ihre »heimliche Gemeinschaft« wäre ein »vielfaches Stück Menschlichkeit«: »Nur von uns hängt es ab, die Glühwürmchen nicht verschwinden zu sehen. Dazu müssen wir selbst jedoch all dies auf uns nehmen: die Bewegungsfreiheit; den Rückzug, (…) die Fähigkeit, immer wieder ein Stück Menschlichkeit in Erscheinung treten zu lassen; das unzerstörbare Begehren.«
Die Menschen bräuchten Bilder, um den Pessimismus umzukehren. Nach Walter Benjamin: »Bilder also, um unseren Pessimismus zu organisieren.«
© Matthias Pierre Lubinsky