Morgen eröffnet in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München eine grandiose Ausstellung. Realismus – Das Abenteuer der Wirklichkeit. UND: Heute ist der Geburtstag des Malers Gustave Courbet (10. Juni 1891 bis 31. Dezember 1877).
Der Ideengeber und Kurator der Realismus-Ausstellung, die am morgigen Freitag, 11. Juni 2010 in München eröffnet, schreibt im Katalog-Buch: »Im Rückblick auf seine Geschichte lässt sich die paradoxe Beobachtung machen, dass der Realismus immer gerade in dem Moment auflebt, in dem der Glaube an das realistische Bild endgültig verschwunden zu sein scheint.« Nils Ohlsen hat Recht. Aber so paradox, wie es scheint, ist es nicht. Die unter dem Begriff des Realismus subsumierte Kunst lebt immer dann auf, wenn eine neue technische Entwicklung unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt. Der Beginn der Photographie ging einher mit einer neuen Sachlichkeit in der Malerei. So beginnt die Ausstellung nicht zufällig mit Gustave Courbet (1819-1877). Der ist für seinen Stil heftigst attackiert worden und sah sich genötigt, 1855 in Paris gar eine Gegenausstellung zur offiziellen Jahresausstellung der damaligen Kunstwelthauptstadt zu organisieren. Welche Wellen dieses Ereignis damals schlug, kann man heute sehr plastisch bei Charles Baudelaire nachlesen. In diesem Kontext bedeutend ist auch der dem allgemeinen Publikum weniger bekannte Gustave Caillebotte, der insbesondere die plastische Stadtansicht zu einem neuen Höhepunkt brachte. Theoretisch Substantielles geäußert hat Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist noch heute ein kunsttheoretisches Standardwerk, in dessen Bahnen erst seit wenigen Jahrzehnten weitergeforscht wird. Die aufkommende Photographie schien den Wert des einzig-authentischen Ölbildes zu schmälern, denn nun war es ja unendlich reproduzierbar geworden. Das Gleiche erleben wir heute: Die umfassende Digitalisierung lässt jedermann jedes Photo verändern, bearbeiten, frisieren. Und wieder erlebt der Realismus in der Kunst eine Renaissance, wenn dieses Wortspiel gestattet ist. Es scheint also ein guter Zeitpunkt für diese umfassende Realismus-Ausstellung. Nachdem sie bis Ende Mai diesen Jahres in Emden zu sehen war, ist sie noch bis zum 5. September 2010 in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München zu sehen. Aber was ist denn überhaupt »realistische« Kunst? Die umfassende Einleitung von Nils Ohlsen, macht die Problematik des Begriffs und überhaupt des Kategorisieren-Wollens deutlich. Der Realismus könne abgegrenzt werden vom Naturalismus, der an der Oberfläche der Welt stehen bleibe. Der Realismus gehe über die bloße Imitation der Oberfläche hinaus, »er dringt erkennend in das Wesen des Geschehenen ein und interpretiert seinen Gegenstand, ohne ihn optisch zu modifizieren«, lesen wir da. So geht es uns mit allen weiteren Eingrenzungsbemühungen: Sie alle haben Richtiges an sich. Dennoch bleibt ein Unbehagen. Eine endgültige Definition scheint nicht möglich. Und das liegt im Wesen der Kunst: Wie soll etwas Kunst sein, wenn es sich so problemlos Kategorisieren ließe?
Gustave Courbet, Die Steineklopfer, 1848-49
Gustave Courbet verwahrte sich 1855 in einem Text zu seiner Gegen-Ausstellung gegen den Realismus-Begriff: »Wissen, um zu können, das war mein Gedanke. Imstande zu sein, die Sitten, die Vorstellungen, das Gesicht meiner Epoche nach meinem Dafürhalten zu übertragen, nicht nur ein Maler, sondern auch ein Mensch zu sein – mit einem Wort, lebendige Kunst zu machen, das ist mein Ziel.« Faszinierend an dem, was gemeinhin als »Realismus« bezeichnet wird ist, dass die jeweilige Genauigkeit des Dargestellten uns über die Realität des Dargestellten reflektieren lässt. Entweder erschaudern wir über die Genauigkeit, wie bei den gemalten Portraits von Chuck Close oder Andrew Wyeth. Oder wir stellen das Gesehene sogleich in Frage: So sieht es doch gar nicht aus! Umso realistischer Kunst ist, desto stärker scheint sie unsere Reaktion zu provozieren. 1950 photographierte Josef Breitenbach das weibliche Geschlechtsteil (Akt). Man kann sich heute rückblickend die Reaktion des Publikums vorstellen. Es fühlte sich provoziert. Dabei wurde nur ein Teil des menschlichen Körpers abgebildet.
Edward Hopper, Hotel Lobby, 1943
Ausstellung und Katalog-Buch sind auch aufgrund der dargestellten Bandbreite besonders: Gegliedert sind beide unter dem Titel »Realismus – Das Abenteuer der Wirklichkeit« in die acht Kapitel Stilleben, Interieur, Stadt, Landschaft, Historie, Genre, Porträt und Akt. Das Buch ist durchgehend farbig. Ein zeitloses Sammlerstück wird der Katalog nicht nur aufgrund der herausragenden Druckqualität werden. Er dokumentiert die gesamte Ausstellung und erläutert Gezeigtes durch einen verständlichen und ausführlichen Kommentar. Eine Wertanlage und ein Standardwerk im Bücherregal!
Weegee, Leiche mit Revolver, um 1940
Alle hier gezeigten Bilder sind Bestandteil der Ausstellung.
Realismus- Das Abenteuer der Wirklichkeit.
Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München
11. Juni bis 5. September 2010.
Katalog zur Ausstellung:
Hirmer Verlag, München, 280 Seiten mit 250 Farbabbildungen, 39,90 Euro.