Roland Barthes (12. November 1915 – 26. März 1980)
Heute vor 30 Jahren, am 26. März 1980 starb der Denker, Dilettant und Dandy der Literaturwissenschaft, Roland Barthes. Der DANDY-CLUB erinnert an diesen französischen Ausnahme-Wissenschaftler, der sich niemals an Disziplin-Grenzen hielt und dessen Vorlesung am Collège de France Kultstatus hatte.
Roland Barthes war bereits 63 Jahre alt, als er seinen Beschluss verkündete, ein »neues Leben« beginnen zu wollen. Anstatt wie bisher Vorlesungen über »Literatursemiologie« zu halten, wolle er einen Roman schreiben. Barthes bereitete sich gründlich vor: Er hielt eine Vorlesung über »Die Vorbereitung des Romans«. Diese unerschöpflich scheinende Quelle von Gedanken, Verweisen, Zusammenhängen erschien 2008 bei Suhrkamp als beinahe 600 Seiten starker Band der edition.
Entgegen landläufiger Meinung war Barthes‘ Weg an das Collège de France, an das er 1976 berufen worden war, keinesfalls einer engen Freundschaft mit dem großen Heiligen der Linken Michel Foucault, zu verdanken. Hervé Algalarrondo weiß in seinem nun in Deutsch erschienenen Buch »Der langsame Tod des Roland Barthes« vom Zerwürfnis der beiden zu berichten. Hintergrund sei eine Auseinandersetzung bei einer gemeinsamen Marokko-Reise gewesen, bei der sie sich wegen eines marokkanischen Strichjungen in die Haare gekriegt hätten. Nicht Foucault hätte von sich aus Barthes ans renommierte Collège geholt, vielmehr habe Barthes ihn darum gebeten. Algalarrondo ist Innenpolitik-Experte des Nouvel Observateur und trug dieses Buchprojekt über die letzten Jahre Barthes‘ 25 Jahre in seinem Herzen.
Barthes‘ Vorlesungen wurden rasch zu Publikumsmagneten. Eigens für ihn hatte man einen neuen Lehrstuhl geschaffen: Literatursemiologie. Nicht nur die Studenten lauschten zu hunderten mit offenen Mündern. In der linksintellektuellen Chickeria kam es nicht schlecht, wenn man am Sonnabend Nachmittag im Café sagte, man käme gerade von Barthes.
Tatsächlich liegt der Reiz von Barthes‘ Denken und Vorgehensweise darin, sich an keinerlei wissenschaftliche Gepflogenheiten zu halten. Sie dienten in der Regel sowieso nur zur Abgrenzung des Wissenschaftsturms und zur Pflege des eigenen Standesdünkels. Barthes thematisierte in seinen Überlegungen zur Verfertigung eines Romans alle möglichen Facetten und äußeren Gegebenheiten, die zur Entstehung eines Romans wichtig sind. Oder die sie hindern. Dies fiel ihm sicher nicht schwer, da er ein Vieldenker war. Algalarrondo lässt eine Reihe von Bekannten und Zeugen zu Wort kommen, die von der Gedankenversunkenheit und der Melancholie Barthes‘ bei verschiedensten Anlässen berichten. Dem Biographen selbst widerfuhr das Glück, Ende der 1970er Jahre bei einer Konzertpremiere von Serge Gainsbourg in einer Loge zwischen Louis Aragon und Roland Barthes sitzen zu können. Algalarrondo: »Der Dichter strahlte, der Meisterdenker brütete dumpf vor sich hin.«
Eine der wesentlichen Gründe für Barthes‘ Melancholie mag dessen Situation gewesen sein. Er lebte bis kurz vor seinem eigenen Tod mit seiner Mutter zusammen, hatte niemals einen eigenen Haushalt oder eine Beziehung für die Öffentlichkeit. Er führte eine Art von Doppelleben. Jeden Nachmittag wurde mit der Mutter und dem jüngeren Bruder, der auch in derselben Wohnung lebte, der Tee eingenommen. Dann duschte der Meisterdenker, legte sich Eau de Toilette an und ging um 17.00 Uhr zu seinen jungen homosexuellen Kumpanen. Viele von ihnen waren seine Schüler. Eine Art intellektueller und erotischer Kreis.
Aber Barthes‘ Doppelleben ging dabei viel weiter. Er war ein Dandy-Professor. So gab er stets vor, seine Vorlesung sei für ihn die tatsächliche Vorbereitung eines Romans. Er hat diesen nie geschrieben und wusste vermutlich selbst am besten, dass er dazu gar nicht in der Lage ist. Vielleicht hatte er das niemals wirklich vor. In der Vorlesung behandelte er immer wieder Marcel Proust. Barthes muss dessen literarische Detailexzesse nur allzu gut nachvollzogen haben können. Er selbst war voller Ideen, Gedanken, hatte Mühe zu sortieren. Er hatte in Gesprächen stets ein kleines Notizbüchlein dabei und hoffte, der Gesprächspartner würde ihm Anregungen, Ideen geben können, die er sogleich in sein umfangreiches Denkgebäude einbauen könne. All dies erinnert unwillkürlich an den von ihm so bewunderten Proust.
Die notizartigen Aufzeichnungen für seine letzte Vorlesung machte Barthes am 2. November 1979. Sie enden mit einem Gedanken von Friedrich Nietzsche. Hier die transkribierte Fassung, die mit Mitschriften von Anwesenden abgeglichen wurde aus »Die Vorbereitung des Romans«:
»Worauf ich warte, ist (ich habe es gesagt) ein Auslöser, eine Gelegenheit, eine Verwandlung: ein neues Hören der Dinge → Ich zitiere (wie stets ohne mich zu vergleichen, aber indem ich mich auf praktischer Ebene identifiziere) Nietzsche; Nietzsche hat den Zarathrustra im August 1881 entworfen; macht nach einem Spaziergang durch die Wälder am See von Silvaplana bei einem mächtigen Felsblock halt = Gedanke der ewigen Wiederkunft (…) → Zweifellos ist das NEUE WERK (neu in bezug auf sich selbst: das ist die Forderung an das ZU SCHAFFENDE WERK) erst dann möglich, zweifellos kann es erst dann wirklich beginnen, wenn ein alter Geschmack sich gewandelt hat, ein neuer Geschmack entsteht → Vielleicht also erwarte ich eine Transformation des HÖRENS (…)«
War das die Vorhersehung seines Todes? Als Roland Barthes am 26. März 1980 um 1.40 Uhr im Pariser Krankenhaus stirbt, hatte er alles gesagt.
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Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980. Hrsg. von Éric Marty, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008.
Hervé Algalarrondo: Der langsame Tod des Roland Barthes. Parthas Verlag, Berlin 2010.