Der neue Roman von Szczepan Twardoch
erscheint bei Rowohlt Berlin
Szczepan Twardoch: Kälte
Roman aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin, 432 Seiten, 26,- €.
Erscheinungstermin: 16.04.2024
Der Schriftsteller Szczepan erhält auf einem Boot von einer alten Seefahrerin das Tagebuch von Konrad Widuch. Dessen Lebensschilderung beschreibt die Grausamkeiten und Wirrnisse der stalinschen Sowjetunion, die Irrungen eines jungen Kommunisten mit Lager, Flucht, Verfolgungen. Szczepan Twardochs neuer Roman Kälte ist ungefiltert grausam. Eine Lehrstunde der Geschichte des östlichen Europa im 20. Jahrhundert.
Szczepan Twardoch beginnt seinen neuen Roman mit einer Vorrede, in der er beschreibt, dass im Sommer 2019 für ihn einmal wieder der Zeitpunkt gekommen war, die Zivilisation für eine gewisse Zeit zu verlassen. Er fliegt nach Spitzbergen, wo er in einer Bar eine ältere Frau kennenlernt. Die lädt ihn ein auf ihr Boot, um mit ihr mitzusegeln. Nach kurzer Zeit übergibt sie ihm die Tagebuchaufzeichnungen von Konrad Widuch.
Der Roman Kälte ist kastenartig aufgebaut. Eingeleitet und abgeschlossen durch einen autobiographisch anmutenden Rahmen ist der größte Teil des Buches das Tagebuch des Konrad Wilgelmowitsch Widuch, wie er sich selbstironisch nennt. Als 14-jähriger brach er aus seinem schlesischen Dorf auf; er hatte zu Hause nichts zu gewinnen: Der Vater war eh abgehauen, und seine Mutter verachtete er zutiefst. Er ging zunächst ins Ruhrgebiet und verdiente seinen Lebensunterhalt als Bergmann. Dann trat er in die Kaiserliche Kriegsmarine ein, was ihn 1918 am Matrosenaufstand teilnehmen lies. Sein Leben ist geprägt von grenzenloser Gewalt – gegen sich und andere. Er nimmt teil an den Greueltaten der Reiterarmee Budjonnys, dem Bürgerkrieg in Russland. Stalins Säuberungen innerhalb der bolschewistischen Bewegung bringen ihn in ein Arbeitslager nach Sibirien.
Widuch beginnt das Tagebuch zu schreiben während der Flucht aus dem Gulag im Jahr 1946. Er flieht zu Fuß und auf dem Pferd auf dem Eis. Twardoch verwendet Eis und Kälte als Metaphern für eine emotionslose, ungerechte Welt. Eine Welt, in der für Illusionen oder Gefühle kein Platz ist. Statt Nähe gibt es nur Sklaverei. Statt körperlicher Zärtlichkeiten kennt er Vergewaltigung und Missbrauch. Ausgiebige Rückblenden führen dazu, dass die Lektüre stets changiert zwischen historischen Erlebnissen und reiner Fiktion.
Widuch reflektiert sein Handeln permanent selbst. Er hackt einem Dieb, den er auf seiner Flucht im Eis mitnimmt, die Hände ab, damit dieser ihm nicht mehr schaden kann. Weil der nun sehr stark blutet, bindet er ihm die Unterarme ab: – schließlich könnte er ihn ja notfalls essen. Kurz darauf sagt er in seiner Zerrissenheit, dass man Menschenfleisch nicht esse, das sei ja Kannibalismus.
Szczepan Twardoch ist inspiriert von Joseph Konrad, von dem er die verdrehte Erzählstruktur übernommen hat. Das macht einerseits die Lektüre zuweilen ein wenig anstrengend. Andererseits sind es die Selbstironie des Tagebuch-Autoren und die ungeheure sprachliche Finesse von Twardoch, die die Erzählung auflockern und lesbar werden lassen.
© Matthias Pierre Lubinsky 2024