Ernst Jünger – Gespräche im Weltstaat

Das Buch versammelt bedeutende Interviews mit Ernst Jünger





Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat
Interviews und Dialoge 1929-1997
Hrsg. von Rainer Barbey und Thomas Petraschka
575 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Klett-Cotta 2019, 45 €.





Der deutsche Jahrhundertautor Ernst Jünger (1895-1998) wollte eher durch seine veröffentlichten Erzählungen, Tagebücher und Essays wirken als durch Auftritte oder Interviews. Ein nun veröffentlichter Band faßt beinahe die Hälfte aller jemals gedruckten Gespräche mit dem großen Doyen der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zusammen. Ein Ereignis nicht nur für bisherige Jünger-Leser!





Ernst Jünger schrieb in einem Zeitraum von etwa 75 Jahren etwa 80 Bücher. Er suchte nach den großen Zusammenhängen in der Geschichte und hoffte, Leser jenseits der flüchtigen Tagesereignisse zu erreichen. Stilistisch lag ihm eher das Tagebuch als der Roman. Die Strahlungen gelten heute als ein Standardwerk zum Zweiten Weltkrieg und als Lehrstück des aufrechten Ganges in düsteren Zeiten. Jünger flankierte sein umfangreiches Diarium und seine nicht immer leicht konsumierbaren Erzählungen mit einer großen Anzahl von schmaleren Essay-Bänden, die insbesondere nach dem Krieg zu einzelnen Fassetten der planetarischen Ordnung Stellung bezogen (Über die Linie, Der Waldgang, Der gordische Knoten).





Nach schlechten Erfahrungen mit entstellten und negativ gedrehten Interviews zog er sich zunehmend zurück und empfing nur noch einzelne, ausgewählte Besucher. Dennoch führte Jünger immer wieder im Anschluß veröffentlichte Gespräche. Diese hatten häufig in den Medien keinen großen Wiederhall, fanden dagegen bei intellektuell Interessierten über alle Jahrzehnte erhebliche Resonanz. Antworten von Gegnern und Befürwortern fanden weniger in den Massenmedien statt als in abgelegenen Zeitschriften.





Der Band Ernst Jünger – Gespräche im Weltstaat versammelt stattliche 43 solcher zuvor gedruckten Interviews. Die Herausgeber Rainer Barbey und Thomas Petraschka recherchierten insgesamt 105 mit dem Schriftsteller geführte und gedruckte Gespräche. Sie fanden zwischen 1929 und 1997 statt. Das 575 Seiten umfassende Buch sortiert sie chronologisch nach ihrem Veröffentlichungszeitpunkt. Ein großer Gewinn ist, daß das Buch bedeutende Interviews enthält, die bislang nicht in Deutsch publiziert worden sind. Dies ist umso erstaunlicher, als alle Gespräche in deutscher Sprache geführt worden sind.





Der Sammelband bringt auch Dialoge, die schon publiziert sind, was aber seinen Wert nicht mindert. So kann sich der Leser ein tiefgreifendes Bild vom Autoren machen und einen Überblick über seine Ansichten verschaffen. Die Herausgeber versuchten, wie sie in der Einführung mitteilen, mit ihrer Auswahl Redundanzen zu verhindern, da Jünger naturgemäß häufig dieselben Fragen gestellt worden sind. Süffisant ist, daß Jünger sich manchmal völlig widersprach. Die Herausgeber gehen darauf genauer ein und nennen als Beispiel, daß Jünger 1956 auf die Frage nach Autoren, die er sehr schätze, Rilke, Hofmannsthal und George nennt. Dreizehn Jahre später sagt er. »Weder Stefan George, noch Hofmannsthal, noch Rilke haben mich begeistert.« Ein dandyesker Streich?





Das stattliche Buch ist sowohl für Jünger-Kenner zu empfehlen, wie für Leser, die vom Autoren von In Stahlgewittern noch nicht eine Zeile gelesen haben. Denn erstaunlich ist, wie Jünger, der sonst bei politischen Stellungnahmen oder direkten Aussagen eher zurückhaltend war, in einigen Gesprächen recht deutlich wird. So eignet sich Gespräche im Weltstaat als Einstieg in das geistige und literarische Universum Jüngers ebenso wie für echte Jüngerianer, die sich schon durch ein Gros des Werkes gelesen haben. Auch sie werden durchaus noch Interessantes entdecken.





Dankenswerterweise haben die Herausgeber in einer Bibliographie sämtliche Interviews und Gespräche chronologisch gelistet. Eine ungeheure Fundgrube für jeden, der weiterforschen will. Der Lesbarkeit förderlich wäre es jedoch gewesen, wenn vor jedem Gespräch in einer kurzen Einleitung Person, Medium und eventuell Kontext erläutert worden wären. So ist man gezwungen, ständig in die Bibliographie zu blättern, will man das erfahren.





Dies ist aber nur ein kleiner Wehrmutstropfen eines ansonsten bedeutsamen Buches, bei dem ein umfangreicher Kommentar und ein Namensregister nicht fehlen. Es macht Lust, Ernst Jünger wieder zu lesen!



© Matthias Pierre Lubinsky 2019

Karl Lagerfeld – Visions





Das Ernst Barlach Museum in Wedel bei Hamburg zeigt in einer hochkarätigen Ausstellung rund 150 Photographien von Karl Lagerfeld. Karl Lagerfeld – Visions läuft noch bis zum 24. Februar 2020.




Der im Februar diesen Jahres verstorbene Karl Lagerfeld war nicht nur Modeschöpfer, Designer, Bücherfreak, Sammler, arbiter elegantiarum, – sondern auch hochtalentierter Photograph. Da der zu Lebzeiten einflussreichste Deutsche ein Perfektionist war, musste es dazu kommen, daß er die Aufnahmen für seine Mode-Kollektionen irgendwann selbst anfertigte: Nachdem Lagerfeld zum wiederholten Male mit den Photos für die Chanel-Pressemappe unzufrieden gewesen ist, schlug ihm der Art Director Eric Pfrunder vor, die Photos doch selbst zu machen. Seit diesem Zeitpunkt hat der anspruchsvolle Chef dann sämtliche Aufnahmen gemacht. Eric Pfrunder ist neben dem Verleger Gerhard Steidl Kurator der Ausstellung.





In Wedel werden 117 Selbstpotraits des großen Dandys und Selbstvermarkters Lagerfeld gezeigt. Bilder seiner Kampagnen geben Zeugnis von der kulturellen Verwurzelung des großen hanseatischen Kulturmenschen in Paris.





Ernst Barlach Museum
Mühlenstraße 1
22880 Wedel
Geöffnet täglich von 11.00 bis 20.00 Uhr.

Bis 24. Februar 2020

Karl Lagerfeld Visions im Ernst Barlach Museum Wedel

Stefan Rappo – Nude

Justine, Baie de Somme, France 2018
Photo © 2019 Stefan Rappo. All rights reserved.






Stefan Rappos neuer Photoband Nude ist ein hochkarätiges Bekenntnis zur Gattung der Aktphotographie. In seinem Vorwort wehrt sich der Photograph dagegen, die künstlerische Photographie des nackten weiblichen Körpers zu sexualisieren.







Stefan Rappo: Nude
208 Seiten mit etwa 200 Schwarz-Weiß- und Farb-Photographien
gebunden, teNeues Verlag 2019, 40 €.






Stefan Rappos gerade erschienenes Photobuch Nude gehört sicher zu den qualitativ besten des Genres der vergangenen Jahre. Dies ist kein Zufall, arbeitet Rappo doch seit Jahren mit Peter Lindbergh zusammen. Wer denkt, nun müsste doch in Sachen Akt-Photographie alles Denkbare dargestellt worden sein, wird durch Nude eines Besseren belehrt: Dem 1972 geborenen Schweizer Photographen gelingt eine ästhetisch überzeugende Verschmelzung seiner Models mit ihrer Umgebung. Die jungen Frauen wirken nicht wie platziert. Vielmehr gewinnt der Betrachter den Eindruck, sie gehörten genau an diesen Ort – zu dieser Zeit, bei diesem Licht.




Neben und gerade wegen der hohen Qualität der Photos ist das Buch ein Bekenntnis zur Kunstgattung der Aktphotographie. In seinem Vorwort schreibt der in Paris lebende Künstler, es sei »unglaublich schade, dass die Aktfotografie in unserer Gesellschaft mehr und mehr in ein schlechtes Licht gerückt wird. Auch die Frage nach der Qualität der Bilder stellt sich nicht mehr. Ein hervorragendes Beispiel sind Aktfotos von Prominenten.« Zu Recht wendet sich Rappo gegen die (willkürliche) und bedenkliche Zensur von jeglichen Aktphotos in Sozialen Netzwerken.




Zoe, Skyhouse Joshua Tree, California, USA 2018
Photo © 2019 Stefan Rappo. All rights reserved.






Im Alter von 30 Jahren wagte Stefan Rappo noch einmal einen beruflichen Neustart. Er kündigte seinen Job als Konstrukteur für Forstgeräte und zog nach Südfrankreich, um dort Photographie zu studieren. Nach seinem Studium ging er nach Paris, wo er als Photoassistent für Camilla Akrans, Bruno Aveillan und Peter Lindbergh arbeitete, mit dem er immer noch kooperiert.



Lauren, New York, USA 2016
Photo © 2019 Stefan Rappo. All rights reserved.






Stefan Rappos Nude darf in keiner Sammlung von Aktphoto-Büchern fehlen. Es ist eine zeitgemäße Hommage an die Schönheit des weiblichen Körpers und dabei eine Kampfansage an eine immer stärker um sich greifende Zensur.


Stefan Rappo Nude erschien bei teNeues.




Hier geht’s zum Buch.

Hans Christian Andersen – Reise im Ballon

Andersens schöne Gedichte auf vorgegebene Reime zum ersten Mal in Deutsch





Hans Christian Andersen: Reise im Ballon
Übersetzt durch Peter Urban-Halle.
128 Seiten, gebunden, L.S.D. Verlag 2019, 14,80 €.




Hans Christian Andersen verfasste Dutzende von Bouts-rimés, Gedichte nach vorgegebenen Endreimen. Nach der Entdeckung von Karl Lagerfeld (ⴕ) erscheinen sie nun erstmals auf Deutsch.




Bouts-rimés, also Gedichte, die nach vorgegebenen Endreimen geschrieben wurden, waren in den gebildeten Kreisen Europas im 17., 18. und 19. Jahrhundert ein beliebtes Gesellschaftsspiel. Insbesondere bei gesellschaftlichen Anlässen wurden Poeten oder andere belesene Adlige dazu aufgefordert, innerhalb kürzester Zeit auf vorgegebene Endreime intelligent und unterhaltsam zu reimen.



Hans Christian Andersen (1805-1875) ist noch heute der bekannteste Schriftsteller Dänemarks. Doch neben seinen berühmten Märchen verfasste er auch Dutzende Bouts-rimés, die bislang allerdings einer breiteren Öffentlichkeit verborgen blieben. Gern luden die dänischen Adligen Andersen ein, um sich von seinen Reimen nach ihren Vorgaben köstlich unterhalten zu lassen. Jedoch ging es den Gastgebern – anders als diese Aufgabe in Frankreich zelebriert wurde – nicht nur um Unterhaltung. So erwartete der Herzog von Augustenburg, der ein aktiver Förderer des Dänentums in Nordschleswig war, von Andersen, dass er die Gegend als dänisch beschreibt und in seinem Gedicht die Dänen dazu auffordert, sie zu besuchen.



Zu verdanken sind siebzig der knapp neunzig in Reise im Ballon gedruckten Gedichte dem Andersen-Enthusiasten Jørgen Skjerk, der sie im Rahmen einer zwanzigjährigen Durchforstung der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen fand. Ein weiteres kleines und feines bibliophiles Sahnestück des L.S.D. Verlags!



Als Kostprobe das Gedicht, das dem wohlfeilen Büchlein seinen Titel gab:


REISE IM BALLON

Er flog im Ballon mit seinem Hund,
Über die Stadt und bewaldeten Grund,
Im Schlossturm saß sein Schatz auf dem Quivive,
Sein Fallschirm sank zu ihr mit einem Brief,
Und oben im Korb klang es in seinem Ohr,
Flieg, Engel, flieg! Wie süß kam’s ihm vor.

J. M. W. Turner – Skizzenbuch Wolken

Die originalgetreue Reproduktion von Turners Skizzenbuch erscheint anlässlich der Ausstellung im Kunstmuseum Luzern









J.M.W. Turner: Wolken
Das Skizzenbuch „Skies“
Mit einer Einleitung von David Blayney Brown.
152 Seiten mit 144 farbigen Abbildungen,
gebunden in Leinen mit eingelassenem Frontbild,
Hirmer Verlag 2019, 29,90 €.





J. M. W. Turners Wolken – Das Skizzenbuch Skies ist die originalgetreue Reproduktion eines graphischen Notizbuches des bedeutenden englischen Malers. Es erscheint im Rahmen der grandiosen Ausstellung Turner – Das Meer und die Alpen, die noch bis zum 13. Oktober 2019 läuft.




Die außergewöhnliche Ausstellung Turner – Das Meer und die Alpen im Kunstmuseum Luzern wird von gleich drei bibliophilen und sehr gelungenen Büchern aus dem Münchner Hirmer Verlag begleitet. Für Kunstliebhaber, Büchersammler und Connaisseurs, die stets auf der Suche nach dem Besonderen sind, sind die beiden Skizzenbücher ein bibliophiler Hochgenuss. Neben dem hier bereits vorgestellten Luzerner Skizzenbuch gibt nun auch das Skizzenbuch SkiesWolken einen authentischen Einblick in das Schaffen eines der größten Maler der Moderne.




Die Reproduktion dieser Skizzenbücher ist aufschlussreich. Denn durch sie lässt sich nachvollziehen, wie Turner seine Sujets entwickelte, Motive sammelte und Gesehenes und Wahrgenommenes für sein weiteres Werk nutzbar machte.




Die genaue Entstehungszeit des Skizzenbuchs Skies ist nicht überliefert. Der Maler ordnete es mit dem Vermerk der Nummer 79 direkt hinter einem anderen ein, das er im Jahr 1816 gefüllt hatte. Indes scheint das tatsächliche Entstehungsjahr von sekundärer Bedeutung. David Blayney Brown erläutert in seiner der Reproduktion vorangestellten Einleitung, wie sich Techniken der Himmelsskizzierung aus diesen Entwürfen in späteren – teils bahnbrechenden – Bildern des Meisters wiederfinden.




So lässt diese äußerst gelungene Reproduktion den Interessierten 200 Jahre später nachverfolgen, wie der später weltberühmte Turner, der nicht nur von den Romantikern seiner Epoche hoch verehrt worden ist, seine sublime Wahrnehmung in subtile Gemälde transformieren konnte.




Das wunderschöne Buch enthält auf 152 Seiten 144 farbige Abbildungen. Das schwere beigefarbene Papier, die hochwertige Bindung und nicht zuletzt der Leineneinband mit eingelassenem Frontbild machen es nicht nur für Liebhaber der klassischen Malerei zu einem wohlfeilen Sammlerstück, das man an langen Winterabenden genussvoll zur Hand nehmen wird.




Matteo Neri – Baudelaire

Matteo Neris Studie ist nun das Standardwerk über Baudelaire






Matteo Neri: Baudelaire – Die Legende
342 Seiten mit Abbildungen, Paperback.
Verlag Königshausen & Neumann 2019, 34,80 €.






Matteo Neris Buch Baudelaire – Die Legende kommt bescheiden daher. Auch der Untertitel sorgt eher für Verwirrung. Dabei handelt es sich bei dem umfangreichen Werk um nichts Geringeres als das nun bestimmende Standardwerk der Sekundärliteratur zu dem französischen Dichter.





Die Deutschen haben offenbar ein etwas gespaltenes Verhältnis zu Charles Baudelaire (1821-1867). Zwar ist sein Name allgemein bekannt. Walter Benjamin hat von ihm geschwärmt, Texte erstmalig ins Deutsche übertragen. Ernst Jünger hielt ihn für den wichtigsten Erneuerer der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Es dauerte hingegen bis 1975, als der kleine Heimeran Verlag mit der ersten vollständigen Werkausgabe in Deutsch begann. Diese war auf acht Bände geplant, wobei chronologisch Briefe integriert wurden. Allerdings ging der Verlag zwischenzeitlich Konkurs; Hanser hat das große Vorhaben dann zu Ende geführt.



Inzwischen sieht es etwas besser aus: Die achtbändige Werkausgabe hat auflagenstarke und preisgünstige Nachdrucke erfahren. Die Blumen des Bösen, Der Spleen von Paris und eine Essay-Sammlung unter dem Titel Wein und Haschisch liegen seit Kurzem in grandiosen Neuübersetzungen vor. Verwunderlich jedoch, dass erst im Jahr 2019 Matteo Neri mit Baudelaire – Die Legende nach einzelnen biographischen Studien die erste Biographie vorlegt.



Matteo Neris Buch ist gelungen, weil der Privatdozent Baudelaires Werk innerhalb seines Lebens aufscheinen lässt. Nur durch diese enge Verschränkung von Baudelaires Biographie, der ein lebenslang Getriebener war, mit seinen Texten, kann überhaupt verständlich werden, woher der Dichter seine Motive nahm. Neri erzählt von einem jungen Mann, der von der so innig geliebten Mutter nicht verstanden und weggeschickt wird. Die Beziehung zum Stiefvater General Aupick, der später bis zum Botschafter in Madrid aufstieg, endete rasch im Fiasko.



Neri beschreibt den Dandy Baudelaire detailliert in all seinen Exzessen und in seinem hemmungslosen Geldausgeben. Allerdings sollte man das im Falle Baudelaires nicht als Verschwendungssucht bezeichnen, was Neri auch dankenswerterweise unterläßt. Denn Baudelaire suchte, einem Dandy gemäß zu leben. So listet Neri die abenteuerlichen Summen auf, die der werdende Dichter vor allem für Kleidung und die Einrichtung seiner Wohnungen ausgab. Der bis dahin noch völlig unbekannte Nachwuchsdichter hatte Stil: Er gab den Schneidern genaue Anweisungen, wie die Anzüge auszusehen hatten. Der junge Baudelaire, der als Mitte Zwanzigjähriger noch keinen einzigen Francs selbst verdient hatte, bat in flehentlichen Briefen seine Mutter, die horrenden Rechnungen für Schneider, Hutmacher, Hemdenfabrikanten, Handschuhmacher und Buchdrucker zu begleichen. Alles Dinge, die ein Dandy tatsächlich benötigt.



»Seine Höflichkeit war so überspitzt, daß sie manieriert anmutete. Wenn er redete, bemaß er die Sätze; er verwendete nur die gewähltesten Worte; manche Worte betonte er, um ihnen eine geheimnisvolle Bedeutung zu verleihen. Mit einer distanzierten Miene brachte er ungeheure Axiome vor oder vertrat irgendwelche Theorien, die auf einer wunderlichen Logik beruhten.«




Doch Matteo Neri belässt es nicht bei den Äußerlichkeiten. Er sieht genau die geistige Disposition seines Subjekts. So kontextiert Neri den Dandy Baudelaire, dessen Entwicklung 1848 abgeschlossen gewesen sei, mit dem Provokateur und zitiert gekonnt einige entsprechende Sätze aus dem umfangreichen Œvre des radikalen Autoren. Ein Beispiel: »Die Päderastie ist das einzige Band, das den Richterstand mit der Menschheit verbindet.« Neri sieht die selbst stilisierte Märtyrer-Rolle des heranreifenden Schriftstellers ebenso wie die enge Verbindung des Dandys zum Geistlichen, der sein Leben in Zurückgezogenheit verbringt.



Unendlich viele weitere Beispiele für Neris kluge Verzahnung von Baudelaires Werk mit dessen Leben ließen sich anführen. Sie zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung des Biographen und Interpreten. Wir Leser dürfen nun die Ernte genießen. Ein recht preisgünstiges Paperback – das im Moment DAS Standardwerk der Sekundärliteratur über den wohl bedeutendsten französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und großen Theoretiker des dandysme ist. Chapeau!


© Matthias Pierre Lubinsky 2019

 

Turner – Das Meer und die Alpen

Joseph Mallord William Turner, The Blue Rigi, Sunrise, 1842
Aquarell auf Papier, 29.7 x 45 cm, © Tate, London, 2019





Turner – Das Meer und die Alpen ist eines der Ausstellungs-Highlights 2019. Das Kunstmuseum Luzern feiert mit dieser grandiosen Schau eines der angesehensten britischen Maler das 200-jährige Bestehen seines Kunstvereins. Begleitet wird die Ausstellung von drei bibliophilen Büchern aus dem Münchner Hirmer Verlag.



Turner – Das Meer und die Alpen

Ausstellung im Kunstmuseum Luzern 6. Juli – 13. Oktober 2019.

Katalog im Hirmer Verlag: 180 Seiten mit 100 Farbabbildungen auf Kunstdruckpapier, 34,90 €.

J. M. W. Turner: Luzerner Skizzenbuch. 64 Seiten mit 31 Farbabbildungen, gebunden in Leinen mit eingelassenem Frontbild, Hirmer Verlag 2019, 22 €.

J. M. W. Turner: Skizzenbuch Wolken. 152 Seiten mit 144 Farbabbildungen, gebunden in Leinen mit eingelassenem Frontbild, 29,90 €.





William Turner (1775-1851) gilt heute als einer der wichtigsten Wegbereiter der Moderne in der Malerei. Das ist Fluch und Segen zugleich. Segen insoweit, als es nicht falsch ist. Fluch, weil es die Sicht auf die tatsächliche Genialität seiner Malerei verengt. Turner hatte das Glück, daß seine große Begabung bereits früh von seinem Vater gesehen und gefördert worden ist.




Der vorläufige Frieden auf dem Kontinent erlaubte es dem neugierigen und aufstrebenden Künstler, 1802 zum ersten Mal in die Schweiz zu reisen. Dem sollten bis 1844 fünf weitere Aufenthalte folgen. Für seine Ausflüge favorisiert er die Stadt Luzern, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts touristisch noch nicht erschlossen gewesen ist. Turner sucht dabei insbesondere die Lichtverhältnisse und Natureindrücke zwischen dem die Sonne spiegelnden Wasser und den bedrohlich wirkenden Bergen. Das Luzerner Skizzenbuch und das Skizzenbuch Wolken sind originalgetreue Reproduktionen der Skizzenbücher, die der englische Maler mit sich führte und die für eine Vielzahl späterer Werke die Vorlage und Inspirationsquelle werden sollten.




Die umfangreiche Ausstellung des Kunstmuseums Luzern präsentiert über 100 Werke. Sie wurde nur möglich durch die Kooperation mit der Tate London, die viele der Bilder zur Verfügung gestellt hat. Der Nachlaß Turners umfaßt 30.000 Werke auf Papier, 300 Ölgemälde und ganze 280 Skizzenbücher, die allesamt von der Tate Britain bewahrt werden. Unbedingt empfehlenswert sind alle drei Begleit-Bücher, die die Ausstellung durch ihre Beiträge vertiefen und an langen Winterabenden stilvoll rekapitulieren lassen. Der Katalog mit dem Titel der Ausstellung präsentiert sämtliche ausgestellten Werke großformatig auf Kunstdruckpapier. Neben anderen Textbeiträgen schwärmt der Schriftsteller Cees Nootebohm fulminant von Turner. Eine Biographie und Bibliographie ergänzen den wohlfeilen Kunstband. Die beiden bereits erwähnten Skizzenbücher sind ein Genuß für Freunde der Malerei; für Fans von Turner ein Muß; für Bücherliebhaber etwas Besonderes, sind doch in Format und Papier originalgetreue Reproduktionen der Skizzenbücher, die der schrullige Brite in der Schweiz füllte.




Ein großes Verdienst der außergewöhnlichen Ausstellung ist, Turner vom Sockel eines der ersten Künstler der Moderne insoweit zu entheben, als daß er im Kontext seiner Zeit präsentiert wird. Er selbst wußte wohl am besten, welche Rolle er schon zu Lebzeiten spielte. Als John Ruskin ihn im Frühjahr 1844 in seiner Turner Gallery besuchte und ihn auf die spezielle Atmosphäre seiner Bilder ansprach, soll Turner geantwortet haben: »Yes, atmosphere is my style.«


Karl Lagerfeld – Karlikaturen





Karl Lagerfeld – Karlikaturen
Herausgegeben von Alfons Kaiser.
160 Seiten mit 75 Farbabbildungen.
Gebunden, Steidl Verlag 2019, 34 €.




Karl Lagerfeld, der am 19. Februar 2019 gestorben ist, war nicht nur ein begnadeter Modemacher, Photograph, Designer und Verleger. In den letzten Jahren seines Lebens fügte er seinem kreativen Wirken eine weitere Facette hinzu, der des Karikaturisten. Karl Lagerfeld – Karlikaturen versammelt alle für die Frankfurter Allgemeine Zeitung angefertigten Karikaturen.




Karl Lagerfeld (1933-2019) schien sein Ruhm als bedeutendster Deutscher, als einflußreichster Modeschöpfer, gar als arbiter elegantiarum nicht genügt zu haben. Deshalb schickte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) im Jahr 2012 eine Karikatur und schrieb dazu, wenn die Zeitung Interesse hätte, könne sie diese gern drucken. Sie hatte. Und damit nicht genug. Die FAZ bot Lagerfeld an, wenn er denn möge, würde man gern regelmäßig seine Karikaturen drucken. So entstand eine Kooperation, die von 2012 bis kurz vor seinem Tod Anfang dieses Jahres dauerte.




Das nun erschienene Buch Karl Lagerfeld – Karlikaturen versammelt alle 75 für die FAZ und das FAZ-Magazin angefertigten Karlikaturen, wie Lagerfeld, um findige Wortspiele niemals verlegen, seine gezeichneten Kommentare zum politischen Geschehen nannte.




Karl Lagerfelds Karikaturen sind nicht nur zeichnerisch von hoher Qualität. Der große deutsche Dandy maßte sich auch den Luxus einer eigenen Meinung jenseits des deutschen Mainstreams an. So kritisierte er mehrmals vehement die Flüchtlingspolitik Merkels. Lagerfeld war einer der ersten, der deutlich äußerte, Deutschland werde sich durch die Aufnahme von einer Million Muslime (Stand 2015) deutlich verändern. Auch wies der Modezar auf den Zusammenhang der muslimischen Massenaufnahme mit der Explosion des Antisemitismus hin.




In vielen seiner Karlikaturen zeigt sich Lagerfeld als aufmerksamer und gebildeter Beobachter seiner Zeit. So manche seiner Karikaturen ist denen seiner Kollegen an visionärer Weitsicht überlegen.



Serge Ramelli – Paris (Farbe)

Photo © 2019 Serge Ramelli. All rights reserved.

 

 

 

 

Serge Ramelli: Paris (Farbe)
176 Seiten mit ca. 80 Farbphotographien
Texte in Deutsch, Englisch und Französisch.
teNeues Verlag 2019, 39,90 €.

 

 

Serge Ramelli ist wohl einer der erfolgreichsten Photographen der Welt. Bei seinen Photo-Kunstwerken setzt er Digitaltechnik ein und bearbeitet sie mit Photoshop. Nun erscheint sein großformatiges Buch mit Farbbildern von Paris.

 

 

 

Serge Ramelli setzt die aktuelle Technik exzessiv ein. Er photographiert digital und bearbeitet die Bilddateien anschließend. Bei manchen Aufnahmen, wie sie dann letztlich veröffentlicht werden, hat er eine mehrfache Zeit der Nachbearbeitung gewidmet im Verhältnis zur Dauer der Aufnahme.

 

 

 

 

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Simon Strauß – Römische Tage

Rom, Piazza del Popolo, Gemälde von Caspar van Wittel, 1718

 

 

 

 

Simon Strauß, Römische Tage
142 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, 18 €,
Tropen Verlag
Erscheint am 22. Juni 2019.

 

 

 

Das neue Buch von Simon Strauß, Römische Tage, erzählt vom zweimonatigen Rom-Aufenthalt des Theaterkritikers im vergangenen Jahr. Es ist eine beschwingte Eloge der italienischen Hauptstadt. Die Buchvorstellung geriet aufgrund römischer Temperaturen am italienischsten Platz Berlins zu einer adäquaten Präsentation.

 

 

 

Die Schizophrenie eines Landes zeigt sich am Umgang mit seinen Intellektuellen. Simon Strauß‘ erster Roman Sieben Nächte, 2017 erschienen, war eine zeitgemäße Bibel des dandysme: Der vor dem Erwachsenenleben stehende Ich-Erzähler will der Langeweile des politisch und sozial überkorrekten Erwerbslebens entfliehen, indem er in sieben Nächten die sieben Todsünden absolviert. Eine Reihe von Kritikern warf dem 1988 geborenen Autoren vor, mit seinem Ästhetizismus und Gefahrenkult protofaschistisch zu sein. Kleiner ging’s wohl nicht.

 

 

 

Man war unweigerlich erinnert an die Kampagne, die die Zeitschrift Theater Heute 25 Jahre zuvor initiiert hatte: Nachdem der Vater, Botho Strauß, einer der bedeutendsten Intellektuellen Deutschlands, in einem konservativen Buch seinen Essay Anschwellender Bocksgesang publiziert hatte, forderte die Fachzeitschrift allen Ernstes ein Spielverbot seiner Stücke. Dieser Zensur-Vorstoß ging damals gründlich nach hinten los. Viele Autoren und Regisseure solidarisierten sich mit Botho strauß

 

 

 

Römische Tage ist ein autobiographischer Reisebericht. Simon Strauß erkundet die italienische Metropole auf den Spuren seiner Literatur-Vorgänger von Goethe bis Ingeborg Bachmann. Zugleich ist das nur gute 100 Seiten schmale Buch eine Art Selbstsuche. Besonders interessierte Strauß, der Theaterkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen ist, die Allgegenwärtigkeit des Gewesenen und der selbstverständliche Umgang der Römer damit. Rom repräsentiere für ihn, »das gelassene Nachdenken über Vergangenheit und Gegenwart«. Entstanden ist eine Melange aus Reportage, Essay und Empfindungsbericht, wie sie im 19. Jahrhundert üblich war.

 

 

 

Die Buchvorstellung hätte an keinem passenderen Platz stattfinden können. Die Buchhandlung Geistesblüten, die die erste Vorstellung des Buches in Deutschland ausrichtete, liegt am Walter-Benjamin-Platz in unmittelbarer Nähe zum Kurfürstendamm. Es ist wohl der am stärksten italienisches Lebensgefühl vermittelnde Ort Berlins. Die Mischung aus Restaurants, Cafés, die zum Draußensitzen einladen und ein begehbarer Springbrunnen boten das passende Ambiente für die dandyeske Lesung bei authentisch römischem Wetter.

 

© Matthias Pierre Lubinsky 2019