Heute vor 141 Jahren, also am 23. Mai 1868 wurde Harry Graf Kessler geboren. Zu seinem Gedenken weisen wir auf zwei brillante Biographien hin – und darauf, dass der Klett-Cotta Verlag in Zusammenarbeit mit Marbach das umfangreiche Tagebuchwerk (neun Bände) veröffentlicht.
Die umfangreichste und dabei sehr detailverliebte ist die 2005 in Deutschland erschienene des US-amerikanischen Historikers Laird M. Easton ‚Der rote Graf‘.
Eine zweite, kürzere aber mit sehr viel Einfühlungsvermögen geschriebene stammt von dem Berliner Galeristen Friedrich Rothe.
Hier die Rezension von Laird M. Eastons ‚Der rote Graf“ von Matthias Pierre Lubinsky:
Er war der wohl bedeutendste deutsche Dandy des 20. Jahrhunderts. Sein Leben war spannungsreich, aufregend und ein Spiegel der Epoche. Doch bis vor kurzem war er der Öffentlichkeit mehr oder weniger unbekannt: Harry Graf Kessler.
Dass sich dies änderte, ist vor allem zwei publizistischen Großtaten zu verdanken. Zum einen der Veröffentlichung von Kesslers umfangreichem Tagebuchwerk, das nun im Marbacher Literaturarchiv zusammengefasst ist. Die Publikation ist ein wissenschaftliches Mammutwerk, angelegt auf beinahe ein Jahrzehnt. Als anderes Meisterwerk kann die große Biographie von Laird M. Easton bezeichnet werden, die ebenfalls bei Klett-Cotta erschienen ist.
»Mir überlegt, welche Wirkungsmittel ich in Deutschland habe: der Deutsche Künstlerbund, meine Stellung in Weimar […], die Verbindung mit der Reinhardtschen Bühne, meine intimen Beziehungen zum Nietzsche-Archiv, zu Hofmannsthal, zu van de Velde, meine nahen Verbindungen mit Dehmel, Liliencron, Klinger, Liebermann, Gerhard Hauptmann, außerdem mit den beiden einflußreichsten Zeitschriften Zukunft und Neue Rundschau, und nach der anderen Seite zur Berliner Gesellschaft, dem Regiment und schließlich mein persönliches Prestige. Die Bilanz ist ziemlich überraschend und wohl einzig. Niemand in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung,« resümiert Kessler über sich selbst. Und er hat recht.
Tatsächlich gab es kaum jemanden in Deutschland, der über ein vergleichbares Netzwerk von musischen Persönlichkeiten verfügte, über noble Herkunft und Ausbildung an europäischen Eliteschmieden und darüber hinaus über einen politischen Willen, der seiner Zeit weit voraus war: patriotisch aber anti-nationalistisch.
Harry Graf Kessler wurde am 23. Mai 1868 in Paris geboren. Sein Vater, Adolf Wilhelm Kessler, ein Hamburger Bankier, ist mit der berüchtigt schönen irischen Adligen Alice Harriett Blosse Lynch verheiratet. Harry ist zeitweilig mit dem Gerücht belastet, er sei ein unehelicher Sohn des Kaisers, der ein Verehrer seiner Mutter ist.Harry erlebt eine Jugend zwischen der preußischen Strenge des Vaters und der musischen Exzentrik der Mutter. – Die Jugend eines werdenden Dandy, auffällig ähnlich mit der von Oscar Wilde und Ernst Jünger. Die verschiedenen Wohnsitze der Kesslers in Paris tragen erste Adressen. Kessler besucht zunächst ein Halbinternat in Paris, wechselt später auf ein Internat nach Ascot/ England. Auf Wunsch seines Vaters tritt er 1882 in die Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums ein, wo er das Abitur macht. Um die Möglichkeiten, die seine gesellschaftliche Stellung ihm bietet, zu nutzen, entscheidet er sich für ein Jurastudium, das er einige Jahre später mit Promotion abschließt. Die Diplomatenlaufbahn, auf die ihn das Studium vorbereiten sollte, scheitert jedoch an Widerständen des Auswärtigen Amtes. Vermutlich störte man sich hier an seiner ungestümen Art, hat der doch bei der ersten Vorstellung sogleich seine Ansichten über Verbesserungen in der deutschen Außenpolitik zum besten gegeben.
1893 übersiedelt er nach Berlin. Er wird Mitherausgeber der Kunstzeitschrift PAN, in der Erstveröffentlichungen von Friedrich Nietzsche, Theodor Fontane, Richard Dehmel, Detlef von Liliencron, Julius Hart, Novalis, Paul Verlaine und Alfred Lichtwark neben Kunstbeilagen berühmter Maler erscheinen. Zwischen 1902 und 1906 ist Kessler Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst- und Kunstgewerbe in Weimar. Er nutzt seine Stellung für die zu dieser Zeit modernste und innovativste Ausstellungs- und Ankaufspolitik in Deutschland. Auf sein Betreiben gründet sich 1903 der Deutsche Künstlerbund, dessen erster Vizepräsident er wird. Der Bund unterstützt zu jener Zeit weniger renommierte Künstler wie Edvard Munch, Johannes R. Becher und die Maler der Künstlervereinigung »Die Brücke«. Zu seinem engeren Freundeskreis gehören Eberhard von Bodenhausen, Henry van de Velde, Max Liebermann und Hugo von Hofmannsthal, mit dem er den »Rosenkavalier« und die Handlung für das Ballett »Josephslegende« verfasst. Unter dem Namen »Cranachpresse« gründet er 1913 seinen eigenen Verlag. Der Kleinverlag erarbeitet sich schnell einen legendären Ruf. Nicht nur erscheinen hier herausragende Erstdrucke wie Shakespeares Hamlet in der Übersetzung von Gerhard Hauptmann Vergils »Eclogen« und die Gedichte Rilkes. Auch die Buchgestaltung ist von höchster ästhetischer Geschmacklichkeit.
Der Erste Weltkrieg beschert Kessler einen kurzen Fronteinsatz. In der Schlussphase des Krieges leitet er in der Schweiz die deutsche Kulturpropaganda. Nach seiner Rückkehr entwickelt er Ideen zur Schaffung eines Völkerbundes. 1922 übernimmt er für kurze Zeit das Amt des Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft. 1924 versucht er ein Reichstagsmandat zu erlangen. Als dieser Versuch scheitert, zieht er sich aus der Politik zurück und widmet sich wieder der Cranachpresse. 1933 emigriert Kessler mit vielen anderen Berliner Juden nach Frankreich. »Der ganze Kurfürstendamm ergießt sich über Paris«, notiert Kessler im Tagebuch. Anschließend geht er für einige Jahre nach Palma de Mallorca, um hier intensiv an seinen Memoiren zu arbeiten. Kessler kann jedoch nur einen ersten Band unter dem Titel »Völker und Vaterländer« fertigstellen. Er stirbt nach längerem Leiden am 30. November 1937 in Lyon. Auf den Tag genau 37 Jahre nach seinem großen Dandyvorfahren Oscar Wilde.
Easton, Associate Professor für Geschichte an der California State University, gelingt es, sich in seiner umfangreichen Biographie der Person Kesslers einfühlsam und zugleich mit der gehörigen Distanz zu nähern. Eine besondere Stärke des Buches ist die Präsentation des Kunstliebhabers, Mäzens und Weltgewandten innerhalb des Beziehungsgeflechtes aus Bekanntschaften, Freunden und sozialem Umfeld. Kesslers Motivationen wird nachgespürt, ohne dass Easton in falsche psychologische Wertungen verfällt. Sein Werk kann als die nicht nur detaillierteste Kessler-Biographie angesehen werden. Sie ist auch die treffendste und lesenswerteste unter den klassischen Biographien. Dazu beigetragen hat die vorzügliche Übersetzung aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann.
Kesslers Lebensverlauf lässt auch diese Biographie wie einen Krimi erscheinen. Die historische Kompetenz des Wissenschaftlers steht hierzu nicht im Widerspruch. Dem Buch ist anzumerken, dass sich Easton 10 Jahre in die Biographie des Adligen vertieft hat. Seine Lebensbeschreibung verfällt an keiner Stelle der Gefahr, ins Theoretische abzugleiten oder Historisches ohne erkennbaren Zusammenhang zu dozieren. Beeindruckend ist beispielsweise die Schilderung der Zeit zu Beginn von Kesslers Exil. Der treue Freund Max Goertz aus Weimar ruft ihn im Juni 1933 an, um ihm mitzuteilen, dass Kesslers eigener Diener ihn bestohlen habe. Damit nicht genug: Auch an die Nazis habe der Kessler verraten, die darauf hin in sein Haus eingebrochen waren. Hier wird greifbar, was es bedeutet, wenn ein geistiger Mensch von einem Terrorregime bedroht wird und in seiner direkten Umgebung opportunistischem Denunziantentum ausgesetzt ist.
Eine großartige Biographie über den Ästheten Kessler. Prädikat: Geeignet zur Förderung der Urbanität in Deutschland.
Laird M. Easton: Der rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit. Klett-Cotta 2005, 575 Seiten.