Franz Hessel – Pariser Romanze

Ein melancholischer Abschied von Paris: Franz Hessel
© Lilienfeld Verlag/Simone Lucas 2012

 

 

Franz Hessel, Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2012, 144 Seiten, Halbleinen, Fadenheftung, Leseband, 18,90 Euro.

 

Dies Büchlein ist ein langer, melancholischer Abschied. Ein adieu à Paris in Briefform.

Der Briefschreiber befindet sich bereits an der Front des Ersten Weltkrieges, als er damit beginnt, seinem Freund Erlebnisse aus Paris mitzuteilen. Die wenigen langen Briefe schildern das Frühjahr 1914. Er begegnet dem deutschen Mädchen Lotte, dem er ‚seine‘ Stadt zeigt, vorstellt, präsentiert. Flanierend erobern sie sich so zusammen die große Kultur-Metropole:

Am Odeon stiegen wir aus und gingen in den Luxembourg-Garten. Sie kannte nur das Museum; aber daran gingen wir vorbei und kamen zu dem Platze, wo die alten Männer Croquet spielen.

Geschickt verwebt Franz Hessel die Schilderung der Atmosphäre der Stadt mit Handlungen, die den Charakter ihrer Bewohner verdeutlichen. So schreibt er weiter:

Lotte blieb stehen und sah den bedächtigen Bewegungen der Alten interessiert zu. Als sich einmal eine Kugel vom Reifen verlief, sprang sie hin und brachte sie dem Spieler zurück. Und obwohl das gegen die Spielregel war, nickten die Alten freundlich, kamen alle zu ihr und schwatzten mit ihr von Croquetspeil, Wette, Jugend und Alter.

Der Leser ist vom Briefeschreiben an die Hand genommen und flaniert als Zaungast mit durch die Stadt, die nach dem großen Feuersturm des Krieges eine andere werden sollte. Diese Atmosphäre von jugendlicher Unbeschwertheit und Freigeistigkeit sollte sie danach nicht mehr haben. In bewusst gewählter Sprache schildert Franz Hessel die Straßen, Plätze und Gassen mitsamt ihren Menschen, sodass beim Leser Bilder entstehen. Es ist der Schwarz-Weiß-Film einer Metropole im Aufbruch, kurz vor dem Beginn des vierjährigen Vernichtungskrieges. In allem ist Abschied:

Lange blieben wir bei dem Kinderkarussell, lasen die Aufschriften der vorübergleitenden Wagen und die Namen der Pferdchen, des gelben Hirsches, roter Löwen und weißer Elefanten und liebten die kleinen Reitersleute und Wageninsassen. Besonders drei hilflos Kleine im Wagen, der New York heißt, gefielen uns. Lotte summte die Melodie mit, die stöhnend und pfeifend und von jähen Pausen unterbrochen abrollte.

Der Autor wurde 1880 in ein gut situiertes Bankiershaus geboren, wuchs dann in Berlin auf. Während seiner Studienjahre in München lebte er in einer Wohngemeinschaft. Von 1906 bis zum Ersten Weltkrieg 1914 lebte er in Paris. Ab den 1920er Jahren wohnte Hessel in Berlin. Hier arbeitete er als Übersetzer und Lektor. Er machte sich zusammen mit seinem Freund Walter Benjamin an die Übertragung von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). 1938 floh er vor den Nazis nach Frankreich, wo er zwei Jahre später als ‚Feindlicher Ausländer‘ interniert wurde. Franz Hessel starb 1941 in einem Internierungslager in Sanary-sur-Mer.

Das Buch ist in gewisser Hinsicht das Produkt eines Paradoxons: Franz Hessel schenkt der europäischen Kulturhauptstadt nach dem Krieg eine Liebeserklärung. Gleichzeitig geht er sofort nach seinem Gestellungsbefehl für Deutschland an die Front, obwohl er als frischer Vater – sein erster Sohn wurde im Sommer 1914 geboren – noch einige Wochen Schonzeit gehabt hätte.

Der Frankfurter Verlag Rütten & Loening, in dem Hessels erster Roman Der Kramladen des Glücks erschienen war, lehnte das Buch ab. Doch Hessel hatte Glück: Der gerade erst von Leipzig nach Berlin übersiedelte Rowohlt Verlag veröffentlichte die Erzählung 1920. Darüber hinaus stellte Ernst Rowohlt den Autoren als Lektor ein.

Die Wiederentdeckung einer leisen Paris-Beschreibung. Von einem Deutschen, der sie mit seinen Augen sieht und den Leser in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einlädt. Ein literarisches Kleinod!