Max Ernst, Die Versuchung des heiligen Antonius, 1945
© VBK, Wien 2013/Lehmbruck Museum, Duisburg,
Photo: Achim Bednorz, Ullmann Verlag, Potsdam
Max Ernst – Retrospektive.
Ausstellung in der Albertina, Wien noch bis 5. Mai 2013.
Katalog im Hatje Cantz Verlag, 2013, 352 Seiten, 343 farbige Abbildungen, 49,80 Euro.
Frage: »Was halten Sie von Kant?«
Antwort: »Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des Philosophen.«
Diese Interviewfrage ist fiktiv. Sie wurde verfasst von Max Ernst für einen kleinen Bildband mit Werken von ihm, der 1959 mit einem Vorwort von Georges Bataille in Paris erschien. Der Text hat mittlerweile Kunstgeschichte geschrieben. Er wurde mehrmals von Max Ernst überarbeitet und erschien in verschiedenen Versionen bis 1970. In Form eines Frage- und Antwortspiels gibt Max Ernst hier viel von sich preis. Man versteht sein Getriebensein – seine lebenslange Suche nach sich selbst und einem Ziel seiner Kunst. Der Schlüsseltext enthält auch sein berühmtes Diktum:
Mein Vagabundieren, meine Unruhe, meine Ungeduld, meine Zweifel, meine Glauben, meine Halluzinationen, meine Lieben, meine Zornausbrüche, meine Revolten, meine Widersprüche, meine Weigerung, mich einer Disziplin zu unterwerfen, und sei es meiner eigenen, die sporadischen Besuche von perturbation, ma soeur (Störung, meine Schwester), la femme 100 têtes (Die hundertköpfige Frau) haben kein Klima geschaffen, das einem ruhigen, heiteren Werk günstig wäre.
Eine groß angelegte Retrospektive in der Albertina, Wien (noch bis 5. Mai 2013) und anschließend in der Fondation Beyeler, Basel – die erste seit 14 Jahren im deutschsprachigen Raum – bringt ihn uns näher. So nah wie noch nie. Dazu tragen bei die 190 ausgestellten Werke aus allen Lebensabschnitten Max Ernsts und ein begleitendes Katalogbuch, das neben allen Ausstellungsstücken zwölf kürzere Texte enthält, die in verschiedene Aspekte des Œuvres einführen. Doch das Anliegen der Retrospektive geht weit über eine reine Präsentation hinaus. Gerade um die Brüchigkeit dieses außergewöhnlichen Werkes besser verstehen zu können, werden Verbindungslinien nachgezeichnet: Sieben bedeutende Essays beleuchten im Katalog biographische Aspekte. Werner Spies, einer der Herausgeber des zweieinhalb Kilogramm schweren Bandes, schildert die Bedeutung, die die Emigration für Max Ernst hatte. Weitere Essays befassen sich mit Tristan Tzaras Dadaglobe, den Körperbildern oder seiner Stellung in der modernen Malerei.
Max Ernst, Die ganze Stadt, 1935/36
© VBK, Wien 2013/Kunsthaus Zürich
Max Ernst wurde 1891 im rheinischen Brühl geboren. Als revoltierender Künstler zieht er 1922 von Köln nach Paris. Hier agiert er im Kreis der Surrealisten; André Breton wird später über seinen Einfluss sagen, ohne Max Ernst hätte es keine surrealistische Malerei gegeben. Während des Zweiten Weltkrieges wird er von der französischen Regierung zwei Mal als feindlicher Ausländer interniert. Durch Interventionen seines Freundes, des Schriftstellers Paul Éluard, kommt er frei. 1941 gelingt ihm die Flucht in die USA. Doch auch hier – nach dem Kriegseintritt Amerikas – gilt er als feindlicher Ausländer und wäre abgeschoben worden, hätte er nicht die wohlhabende Kunstsammlerin Peggy Guggenheim geheiratet. Ab 1942 gibt Max Ernst zusammen mit anderen Exilanten, unter ihnen André Breton und Marcel Duchamp, die Zeitschrift VVV heraus und bringt damit den Surrealismus nach Amerika. 1953 kehrt er nach Frankreich zurück. Er lebt zunächst in Paris und zieht zwei Jahre später nach Huismes bei Tours. 1958 wird Max Ernst französischer Staatsbürger und die Berliner Akademie der Künste nimmt ihn auf. Max Ernst stirbt am m 1. April 1976, in der Nacht vor seinem 85. Geburtstag, in Paris. Seine Urne wird auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris bestattet.
Die Retrospektive hat drei Schwerpunkte: Max Ernsts frühe Schaffenszeit des Dada in Köln, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in Paris und die 1940er Jahre im US-Exil.
Wer hätte das Werk von Max Ernst besser beschreiben können als Max Ernst? »Aufrührerisch, ungleichmäßig, widersprüchlich, ist es für die Spezialisten der Kunst, der Kultur, des Benehmens, der Logik, der Moral unannehmbar. Es hat dafür die Gabe, meine Komplizen zu bezaubern, die Dichter, die Pataphysiker und ein paar Analphabeten.«
Retrospektive und Katalogbuch bieten wunderbare Gelegenheiten, zu Komplizen zu werden.
© Matthias Pierre Lubinsky 2013
Photo: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler