Stefan George, Zeitgenössische Dichter, Übertragungen, Erster und Zweiter Teil, zugleich Sämtliche Werke in 18 Bänden, Band XV und XVI. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011, gebunden in Leinen, 162 und 200 Seiten, jeweils 23 Euro.
Stefan George wird heute kaum noch gelesen. Und dennoch gehört er zu den bedeutendsten Dichtern in deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Seinen Namen kennen auch Leser, die nur Taschenbücher in Händen halten.
Das verdankt er seinem Zögling Claus Graf Schenk von Stauffenberg. In einer verheerenden Bombennacht in Berlin Nikolassee, schritt der spätere Hitler-Attentäter im Frühling 1944 auf den Balkon seines Hauses in der Tristanstraße und rezitierte Verse aus Georges Gedicht Der Widerchrist.
Ikonographie ist das Photo, das George mit Claus und Berthold von Stauffenberg 1924 zeigt: der Meister und seine Schüler des »Geheimen Deutschland«.
Weniger bekannt ist, dass 1933 die beiden Stauffenberg-Brüder bei Locarno die Totenwache für George hielten.
Nach dem gescheiterten Tötungsversuch an Hitler am 20. Juli 1944 wurde mit Claus Schenk von Stauffenberg im Bendlerblock auch der juristische Erbe Georges erschossen.
So beeinflusst der Geist Georges in tiefen Schichten noch heute die Kultur Deutschlands. Dass das so ist liegt auch an Georges Übertragungen zeitgenössischer Dichter, deren zwei Bände nun als Bände XV und XVI der Sämtlichen Werke bei Klett-Cotta erschienen sind. George selbst hatte nicht den Anspruch, Rossetti, Swinburne, Dowson, Jacobsen, Kloos, Verwey oder Verhaeren, die im ersten Buch enthalten sind, zu ‚übersetzen‘. Doch ist die Freiheit, die sich der Sprachmagier bei der Übertragung zubilligte, weitaus geringer, als oft behauptet wird.
Vergleicht man beispielsweise das Gedicht »Der Kuss« von Dante Gabriel Rossetti, so ist die Nähe zum englischen Original erstaunlich. Die erste Strophe lautet bei George:
Welch qualmend leid in tödlichem Verzug
Und welches tückevollen wechsels bann
Dem leib den ruhm · der seele rauben kann
Die hochzeitskleider die sie heute trug!
Das Original von Rossetti:
What smouldering senses in death’s sick delay
Or seizure of malign vicissitude
Can rob this body of honour, or denude
This soul of wedding-raiment worn to-day?
Aufgrund seiner ungeheuren Sprachmacht ist es George gelungen, das jeweilige Air der Sprachmelodie ins Deutsche zu transformieren – oder zumindest sichtbar werden zu lassen. Kann einem ‚Übersetzer‘ Größeres gelingen?
Ein Jahr nach der Veröffentlichung der beiden Bände der »Zeitgenössischen Dichter« veröffentlichte Alfred Kerr im Dezember 1905 in der Berliner Zeitung Der Tag eine hymnische Rezension. Sie trug lediglich die Überschrift »Übersetzungen« und war ein Lob von außergewöhnlichem Rang. Kerrs These war »Es gibt keine Übersetzungen.« Kerr übertrug seine These im Laufe seiner Besprechung dann auf die verschiedenen Übertragungen Georges: »Es gibt keine Übersetzungen. Doch wundervolle Kämpfe, diese Unmöglichkeit zu überbrücken. Hier ist der wundervollste seit langer Zeit.« Als wundervoll empfand Kerr auch Georges Baudelaire-Übertragung: »Es gibt keine Übersetzungen. Das fühlt man auch vor Baudelaire. Aber man möchte, dies vorausgeschickt, ihn heut von einem Kleineren nicht übertragen wissen als von George.«
Der zweite Band von »Zeitgenössische Dichter«, der als XVI. Band der Sämtlichen Werke von Stefan George in 18 Bänden bei Klett-Cotta erscheint, enthält Nachdichtungen von Verlaine, Mallarmé, Rimbaud, de Regnier, d’Annunzio und Rolicz-Lieder.
Dandys unter sich, ist man geneigt zu sagen und trifft damit ein wesentliches Element der hier versammelten Texte. Denn es ist die tiefe Bewunderung dieser Dichter, die George dazu trieb, sie auch in Deutschland zugänglich zu machen.
Unter den Schriftstellern, die er in Paris persönlich kennenlernte, hat ihn wohl Stéphane Mallarmé am stärksten beeindruckt. Mallarmé war seit den 1880er Jahren die maßgebliche Autorität des literarischen Paris. Er vermochte nach allgemeiner Auffassung am meisten aus der Sprache zu machen. Und sein Urteil über andere Dichter wog am schwersten. Stefan George sprach nicht zuletzt über seinen eigenen Wunsch entsprechend wahrgenommen zu werden, als er über den Bewunderten schrieb:
Deshalb o dichter nennen dich genossen und jünger so gerne meister
weil du am wenigsten nachgeahmt werden kannst
und doch so grosses über sie vermochtest.
Als George im Sommer 1889 Zutritt bekommt zu den legendären mardi, den dienstäglichen Salonabenden in Mallarmés Wohnung in der Rue de Rome, ist er gerade 21 Jahre alt und hat noch keine Zeile veröffentlicht. Ihn prägen die Zusammenkünfte nachhaltig. Es ist der gediegene Umgang Mallarmés, seine souveräne Ruhe und nonchalante Höflichkeit. Dazu passt sein geistiges Flanieren. Ein Stichwort genügte, und der Meister parlierte ausgehend von einer Zeitungsnotiz, einer Ausstellungseröffnung oder einem zuvor besuchten Konzert über vielerlei intellektuelle Abzweigungen durch geistige Labyrinthe. Die Klarheit seiner Gedanken soll die Gäste in ihren Bann gezogen haben. Sein deutscher Bewunderer lernte aber vor allem, dass Dichtung mehr als ein Handwerk ist. Es genügt nicht, Worte stilvoll aneinander zu reihen. Mallarmé zeigte ihm durch seine ganze Art Dichtung als Haltung. Der wahre Dichter ist ein Gesamtkunstwerk.
So kann es nicht verwundern, dass George in seinen zweiten Band der Zeitgenössischen Dichter unter nur drei Gedichten von Mallarmé die »Erscheinung« mit aufnimmt.
Der mond war in trauer und weinende engel im traum ·
Den bogen in ihren händen im blumigen raum ·
Im hauchenden · liessen aus den sterbenden saiten
Wie weisse seufzer auf azurne kelche gleiten.
Es war deines ersten kusses gesegneter tag.
Mein schwärmen quälte mich mit geisselndem schlag
Und tauchte mich weise unter im dufte der trauer
Der ohne nachgeschmack lässt und ohne bedauern
Das pflücken eines traums fürs herz das ihn pflückt.
Ich irrte das auge aufs alternde pflaster entrückt –
Da kamst du mit der sonne im haar auf den wegen
Und in dem abend auf einmal mir lächelnd entgegen.
Ich glaubte ich sähe die fee im strahlenhut
Die einst überm schlaf des verwöhnten kindes geruht
Mit halbverschlossenen händen vorübergleiten
Draus weisse sträusse von duftenden sternen schneiten.