Ist Kunst vielleicht nur ein einziges großes Mißverständnis?
Der 1922 in Deutschland geborene Lucian Freud, Enkel des egomanischen Seelen-Analysten, gilt als einer der bedeutendsten Maler der Gegenwart. Sein lebensgroßes Aktgemälde »Benefits Supervisor Sleeping« ist Mitte Mai diesen Jahres in New York für den Rekordpreis von 33,6 Millionen Dollar (21 Millionen Euro) versteigert worden. Noch nie zuvor ist bei einer Auktion für ein Werk eines noch lebenden Künstlers so viel Geld gezahlt worden. Den bisherigen Weltrekord hielt mit 23,6 Millionen Dollar der US-amerikanische Pop-Künstler Jeff Koons mit seinem Werk »Hängendes Herz«. Den Geist des aktuellen Kunstmarktes macht das Faktum des Käufers klar: Ein Ölmilliardär aus der Ukraine.
Nun gibt es eine große Werkschau im Centre Pompidou in Paris. Die Ausstellung richtet ihren Fokus – wie der Titel lautet – The Studio/ L’Atelier (noch bis zum 19. Juli 2010). Das heißt, die Ausstellungsmacher sahen ein zentrales Anliegen darin, Werk und Schaffen des Künstlers im Zusammenhang mit ihrem Entstehungsort zu präsentieren. Mehrere Essays in dem fulminanten Ausstellungskatalog begründen und veranschaulichen diesen Ansatz. Die Museums-Ausgabe ist französisch, die internationale Ausgabe in englischer Sprache. In der Tat spielt das den Raum spendende Atelier die räumliche Bedingung, Voraussetzung für das jeweils entstehende Gemälde. Freud selbst hat stets betont, in dem Bild auch immer die Einheit des Raum-Zeit-Momentes festhalten zu wollen.
Dankenswerterweise ist die internationale Ausgabe des bibliophilen Kataloges nun auch im Buchhandel erhältlich. Sie dokumentiert sämtliche Werke der Ausstellung, ist opulent ausgestattet mit zahlreichen ganzseitigen Farbabbildungen und einem ausführlichen Dokumentarteil, in dem Stationen aus dem Schaffen Freuds und wesentliche Einflussgeber präsentiert werden.
Kehren wir zurück zum Mißverständnis. Denn trotz Preisrekord und allgemeiner Anerkennung des Wertes seiner Kunst in Handbüchern und Lexika, sind Ausmaß und Vehemenz der Kritik an der Ausstellung erstaunlich. Die französischen Medien waren deutlich in ihren Verrissen, – was einen deutschen Beobachter erstaunt. Bislang war man als Deutscher doch so froh über die frankophile Toleranz als Bestandteil des savoir vivre. Deutsche Leitmedien waren da durchaus differenzierter. So schreibt Werner Spies in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Die Rückkehr zum Gegenständlichen oder besser gesagt der Stillstand in der Wiedergabe von Realität, die die zumeist großen Leinwände Freuds vorführen, schockiert. Denn im Unterschied zu Francis Bacon, der in der Transgression des Appetitlichen mindestens ebenso weit geht, gibt es bei Lucian Freud nichts zu entdecken, was auf eine stilistisch gewollte Deformation schließen ließe. Ja, eigentlich gibt es keine Stilisierung. Das ist im Übrigen eine Feststellung, die das gesamte Werk betrifft. In den wenigen Arbeiten der Ausstellung, die sich nicht mit der Aktfigur oder mit Hunden abgeben, den Wald- und Pflanzenbildern, die bei der Beschäftigung mit Constable einsetzen, fällt auf, dass auch sie nirgends die korrekte Perspektive aufgeben wollen. Auch dort, wo man meinen könnte, in ein symbolisches, psychisches Dickicht einzutreten, offeriert diese Malerei eine logische Verknüpfung von Vorder- und Hintergrund.« Spies urteilt, dies unterscheide die Werke von Freud grundsätzlich »von der irrealen Vegetation in Bildern Gustav Klimts, die das Auge umstrickt und fesselt«.
Besonders beeindruckend scheinen Ausstellung und Katalogbuch dort, wo die Schöpfung des Werkes, die Arbeit am Bild dokumentiert wird. So sind es die Photographien von David Dawson, die in der Ausstellung neben den Portraits und Selbstportraits von Freud präsent sind. Sie geben uns mehr als einen Aufschluss, wie es im Atelier am Holland Park in Kensington zugeht. Das Buch dokumentiert sie großzügig auf ganzseitigen Farbtafeln. – Aber auch Freud selbst offenbart sich permanent. Offenbart sich geradezu exhibitionistsich. The Painter Surprised by a naked Admirer (2004-05) ist so ein frivoles Bild: Auf dem Dielenboden des Ateliers sitzt eine nackte junge Frau im Schneidersitz. Sie will etwas. Der Maler/ das Objekt ist gleichzeitig irritiert und fasziniert. Die nächste Seins-Stufe erhält die Situation durch ihre Bändigung auf die Leinwand.
Es sind die Bilder von einem nächtens wütenden Maler in seinem Atelier. Besudelt von Farbe und Schweiß. Man hört förmlich die Musik von Rammstein erdröhnen. So sind es wiederum die Kritiker, die ironischer Weise auf den Spuren von Großvater Sigmund Freud – psychologisieren: Es gehe bei dem »Zuviel an Fleisch um Hygiene um Berührungsangst «, freuen wir uns über die Nachhilfe. Lucian Freuds Antwort darauf: Selbstportraits in Metzgerschürze.
Der inernationale (englischsprachige) Katalog zur Ausstellung:
Lucian Freud – The Studio.
Centre Pompidou/ Hirmer Verlag 2010, 239 Seiten mit 50 Farb- und 10 Schwar-weiß-Tafeln. Gebunden. Euro 44, 90.