Berlin in Photographien des 19. Jahrhunderts

Max Missmann, Blick auf Schlossbrücke, 1909.
Der dominante Bau des 1905 eingeweihten Neuen Doms
lässt Schinkels Altes Museum bescheiden erscheinen.
courtesy Schirmer/Mosel

 

 

 

Miriam Paeslack, Berlin im 19. Jahrhundert.
Frühe Photographien 1850-1914.
232 Seiten mit 183 Tafeln und 12 Abbildungen in Duotone,
Schirmer/Mosel 2015, 49,80 € (D).

 

 

Berlin. Berlin? Eine Hauptstadt in permanentem Ausnahmezustand. Die ungewöhnliche Teilung ist Geschichte. Nun strömen jährlich Millionen Touristen in die deutsche Hauptstadt. Doch was sie zu sehen bekommen, hat mit der Stadt kaum noch etwas zu tun. Potsdamer Platz und von internationalen Konzernen beherrschte Shopping-Center sehen aus wie in vielen anderen Großstädten auf der ganzen Welt. Ein besonderer Photoband zeigt Berlin in Aufnahmen zwischen 1850 und 1914 und vermittelt wieder ein Gefühl für diese geschundene Metropole.

 


Charles Baudelaire sprach das grausame Wort von der Stadt, die schneller als ein Menschenherz sich wandle. Er meinte Paris. Dabei scheint seine Aussage auf die deutsche Hauptstadt noch besser zu passen. Doch Berlin ist schwer zu fassen. Heute strömen täglich zehntausende Besucher zum ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie, um sie zu erhaschen, die Geschichte, Authentizität. Die traurige aber wahre Nachricht ist: Ihr Jungen, die ihr die Teilung nicht erlebt habt, werdet sie nicht mehr nachvollziehen können, nicht mehr verstehen.

 

 

F. A. Schwartz, Die letzte Windmühle in der Fidicinstraße (Kreuzberg), 1890.
courtesy Schirmer/Mosel

 

 

 

Bei aller Euphorie, die Berlin gerade umgibt, sollte ein Faktum nicht außeracht gelassen werden. Zur Zeit wird viel gesprochen von der Normalität, die sich in Berlin nun endlich einstelle. Aus der Perspektive eines Weltbürgers, der sowohl in London, Paris oder Sydney zuhause ist, ist da viel Wahres dran. Außeracht gelassen wird, daß Berlin im Mai 1945, als das Deutsche Reich den Krieg offiziell verloren hatte, diese Stadt praktisch komplett ausgelöscht worden war.

 

 

Deshalb scheint es heute um so stärker geboten, die Vergangenheit dieser bis auf ihre Existenz geschundenen Metropole zu re-konstruieren. Der nun bei Schirmer/Mosel erschienene Photoband Berlin im 19. Jahrhundert – Frühe Photographien 1850-1914 gibt dazu die Möglichkeit. Berlin hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung durchgemacht. Im 15. Jahrhundert zum Regierungssitz der Hohenzollern erkoren, wurde der Ort durch ihren Aufstieg zu den Königen Preußens ab 1701 in den Strudel der deutschen Geschichte gerissen. Mit der Begründung des Deutschen Reiches 1871 brauchten die Herrscher – nun als Kaiser – eine repräsentative Hauptstadt. Berlin konnte der über Jahrhunderte gewachsenen Herrschaftlichkeit von Paris oder London – von Rom ganz zu schweigen – nicht das Wasser reichen.

 

 

Aber die Schnelligkeit der politischen und vor allem technischen Entwicklung sollte das wettmachen. Großkonzerne wie Borsig, Siemens und AEG lassen die Einwohnerzahl drastisch in die Höhe steigen. Zählte man im Jahr 1825 noch etwa 220.000 Einwohner, so waren es 30 Jahre später fast doppelt so viele. 1877 erfaßte die Verwaltung bereits über eine Million Berliner, was allerdings auch die Folge größerer Eingemeindungen war.

 

 

 

Waldemar Titzenthaler, Kupfergraben mit Jungfernbrücke (Mitte), 1909.
courtesy Schirmer/Mosel

 

 

 

Das von Miriam Paeslack herausgegebene Buch gruppiert die knapp 200 Photographien in vier Kapitel, die Themen wiedergeben sollen: Aufnahmen des imperialen Berlin zeigen die Stadt von ihrer repräsentierenden und offiziell propagierten Seite. Die Darstellungen des historischen Ortes zeigen den Wandel, die Wunden und durchaus sichtbare Geschichtszeugnisse. Allerdings sind die Kapitel-Themen von starken Überschneidungen gekennzeichnet, was sich bei einer solch rasant entwickelnden Metropole wohl kaum vermeiden läßt. So zeigt das dritte Kapitel mit dem Titel Abbruch und Neubau neben einer Reihe von Baustellen auch den Alten und Neuen Dom und das Stadtschloß.

 

 

Sinnvoll erscheint die bewußte Einbeziehung des damaligen Umlandes, – das heute zu den peripheren Innenstadtbezirken gehört. Ein beeindruckendes Beispiel ist das Haus in der Müllerstraße 83, in dem bis zum Abriß 1934 der letzte Berliner Sandfahrer lebte. Zum Zeitpunkt der hier veröffentlichten Aufnahme 1893 stand das schmale Haus mutterseelenallein umgeben nur von Feldern und einzelnen Bäumen.

 

 

Es gibt viele Bücher mit historischen Photographien Berlins. Dieses ist ein Standardwerk, das aus einer historisch bedeutenden Epoche emblematisch-herausragende Aufnahmen versammelt, die uns Heutigen ein Gefühl zu vermitteln vermögen, woraus diese Stadt gewachsen ist. Die instruktive Einführung von Miriam Paeslack, Assistant Professor of Modern and Contemporary Visual Culture an der University at Buffalo, NY., ist ein lesenswertes Wandeln durch die Vergangenheit der Stadt und der sie begleitenden Photographen.

 


Walter Benjamin schrieb in seiner Rezension des grandiosen Flaneur-Buches seines Freundes Franz Hessel, der Flaneur memoriere wie ein Kind, er bestehe hart wie das Kind auf seiner Weisheit. Beinahe ähnlich wie Benjamin über die Flaneurprosa schrieb, ist man über dieses gelungene Photobuch geneigt zu sagen, was Benjamin weiter schrieb: »Nun ist auch für Berlin ein solches Register, solch ägyptisches Traumbuch des Wachenden zusammengetragen. Und wenn erst der Berliner in seiner Stadt nach andren Verheißungen forscht als denen der Lichtreklamen, dann wird es ihm sehr ans Herz wachsen.«


© Matthias Pierre Lubinsky 2016