Szczepan Twardoch – Demut
Übersetzt von Olaf Kühl
464 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
Verlag Rowohlt Berlin, 25 €.
Erscheint am 15. Februar 2022
Alois Pokora dient für Polen im Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg gerät er zwischen alle politischen Fronten – obwohl er sich eigentlich nie für eine Seite klar entschieden hat. Szczepan Twardochs neuer Roman Demut ist ein Opus der polnisch-deutschen Geschichte. Herausragend geschrieben und fulminant übersetzt.
Alois Pokora dient vier Jahre für Polen im Ersten Weltkrieg. Neben ihm sterben seine Kameraden im Granatenhagel. Er sieht bestialisches Morden – obwohl er vom Leben kaum noch etwas weiß. Der junge Mann stammt aus einfachsten Verhältnissen, einer Bergarbeiterfamilie. Sein Vater macht seiner Mutter soviele Kinder, dass sie die kaum durchbringen können. Ein Pfarrer sorgt dafür, dass Alois einen anderen Weg gehen kann als sein Vater, Großvater, die Onkel. Er soll nicht in die Grube, um sich die Gesundheit zu ruinieren und von der extrem harten Arbeit kaum leben zu können. Er macht das Abitur, um schließlich in Breslau zu studieren.
Nach einem Angriff der Franzosen erwacht Alois im Krankenhaus und kann sich zunächst nicht erinnern. Das Bethanien liegt mitten in Berlin. Aus dem Fenster seines Zimmers sieht er nun unvermittelt den Bürgerkrieg. Der Kaiser hat sich nach Holland abgesetzt und hinterlässt ein Machtvakuum. Die Gruppen und Grüppchen, die gegeneinander kämpfen, um die Macht im zerfallenden Reich zu erringen, scheinen unüberschaubar. Kaisertreue gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Bürgertum und dazwischen die zurückkehrenden Soldaten, die von mehr oder weniger radikalen Verbänden umworben werden.
Szczepan Twardoch baut die Erzählung wie ein Tagebuch. Der Protagonist Alois Pokora ist mitten im Geschehen. Er fällt in seinen Gedanken immer wieder in Erinnerungen, vor allem in die seiner kurzen unbeschwerten Zeit während des Studiums in Breslau. Über allem steht allerdings seine Liebe zu Agnes. Einer Frau, der er tatsächlich nie wirklich nahe war, aber umso mehr vergöttert.
Der 463 Seiten starke Roman Demut ist ein Meisterwerk, in dem es dem schlesischen Autor gelingt, die polnisch-deutsche Geschichte des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive eines jungen polnischen Mannes zu erzählen, der in seinem Leben nie weiß, wo er wirklich hingehört. Für welche Seite zu engagieren es sich lohnt. Immer wieder gerät Alois Pokora dennoch mitten ins Geschehen, ob er will oder nicht. Er kämpft für so manche Seite, ohne es eigentlich zu wollen. Twardoch versteht es meisterhaft, das Schicksal eines Menschen zu schildern, der wahrhaft nach dem Wahren und Richtigen auf der Suche ist – es aber offensichtlich nicht zu finden vermag.
Der Leser wird Zeuge der historischen Ereignisse während und nach dem Ersten Weltkrieg. Wir erleben die Straßenschlachten in der Mitte Berlins, die beschauliche Ruhe im gar nicht so weit entfernten Schlesien. Der Leser hört Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vor ihren roten Kämpfern ihre pathetischen Reden schwingen. Kurze Zeit später gerät Alois Pokora auf ein Rittergut und wird ungewollt in einen Kreis von jungen Adligen aufgenommen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Kommunistenführer zu töten…
Szczepan Twardochs neuer Roman Demut ist ein grandioses Opus Magnum über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Historisch hält sich Twardoch eng an die Tatsachen, dabei liest sich das Buch wie ein Krimi. Aber noch mehr ist es eine Reflexion über den Wert von Ideologien, über den Sinn des Lebens und die Kraft der Liebe. Herausragend geschrieben und grandios von Olaf Kühl übersetzt.
© Matthias Pierre Lubinsky 2022
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