Ernst Jünger – Späte Rache

Späte Rache: Der kleine Band fasst drei Erzählungen Ernst Jüngers zusammen
© Klett-Cotta 2017

 

 

 

Ernst Jünger, Späte Rache. Erzählungen.
Mit einem Essay von Thomas Hettche,
125 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag; Klett-Cotta 2017.

 

 

Drei Schulwege, Die Eberjagd und Besuch auf Godenholm: Drei Erzählungen Ernst Jüngers, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf den ersten Blick jedenfalls. Klett-Cotta bringt sie nun in einem Buch zusammen mit einem fulminanten Essay von Thomas Hettche (Pfaueninsel).


Wolfram ist ein sensibler Junge. Für ihn ist der zwangsweise Schulbesuch die erste schlimme existentielle Erfahrung. Manche Lehrer hassen ihn, andere verachten ihn nur. Mit seinen Mitschülern hat er nichts am Hut. Denn er ist anders. Viel lieber, als sich auf den Unterricht zu konzentrieren, hängt er seinen Tagträumen nach oder sortiert seine Steine, die er sammelt. Das einzige, was am Schulbesuch gut ist, ist der Weg dorthin mit den Vögeln und dem Himmel, überhaupt der Natur.

 

Dabei ist der Junge keineswegs dumm. Interessieren ihn Dinge, so lernt er sie rasch. Aber ein guter Schüler ist eben derjenige, der das Beigebrachte auf Befehl abspulen kann. Intelligent muß man dafür nicht sein.

 

Diese tiefe Leidenserfahrung, die zugleich eine Erfahrung von Einsamkeit, Einzelgängertum und Scheitern ist, ist autobiographisch. Jünger war ein schlechter Schüler. Bekannt ist, daß er unter der Schule zutiefst litt. Dem setzte er ein Ende durch die Flucht zuerst in die Fremdenlegion und dann in den Ersten Weltkrieg. Die Erzählung beendet Ernst Jünger im Juli 1991 – also als 96-Jähriger. Sie ist erst posthum veröffentlich worden, erstmals im letzten Band der Werkausgabe. Der Autor machte sich anscheinend einen Spaß daraus, sich nach langer Zeit an seinen Lehrern zu rächen. Denn er stellte dem Titel der Erzählung Drei Schulwege die Buchstaben voran »Sp. R.«. In dem Supplement-Band der Sämtlichen Werke berichtet Liselotte Jünger, ihr Mann habe während seiner Arbeit an der Geschichte Besuchern die Frage gestellt, wie die Abkürzung aufzulösen sei. Da er aber keinen Hinweis auf den Inhalt gegeben habe, hätte auch niemand eine Antwort gewußt. Sie steht für »Späte Rache«.

 

Der nun veröffentlichte schmale Band, der diesen Titel trägt, beinhaltet noch die zwei weiteren Erzählungen Die Eberjagd und Besuch auf Godenholm. Letztgenannte Geschichte erschien erstmals 1952 in einem selbständigen Büchlein. Die Geschichte basiert auf Jüngers kurz zuvor begonnenen intensiven Experimenten mit LSD. Einige Jahre vorher hatte Jünger Kontakt aufgenommen zu Albert Hofmann, dem Entdecker der Droge, und zusammen mit ihm und einem Arzt begleitete LSD-Sitzungen durchgeführt.

 

In Besuch auf Godenholm spricht Jünger nicht explizit von Drogenkonsum zur Bewußtseinserweiterung. Dennoch ist dieser Hintergrund offensichtlich. Erst in dem späteren Buch Annäherungen – Drogen und Rausch, das 1970 erschien, traute er sich, offener von eigenen Drogenerfahrungen zu berichten.

 

Thomas Hettche steuert dem Buch einen fulminanten Essay bei, in dem er die drei Erzählungen Jüngers als gelungene Beispiele realistischer Literatur einordnet: »Nicht das, was wir durch sie an Tatsachen erfahren, macht realistische Literatur aus, sondern jene pulsierende Lebendigkeit, in der die Realität der Fiktion zugleich behauptet und transzendiert und die Erzählwelt Tatsache und Modell zugleich wird.«

© Matthias Pierre Lubinsky 2017