© Ernst Ludwig Kirchner, Strasse am Stadtpark Schöneberg, 1912/13
Milwaukee Art Museum, Gift of Mrs. Harry Lynde Bradley
Ernst Ludwig Kirchner, Großstadtrausch/Naturidyll
Die Berliner Jahre
Ausstellung Kunsthaus Zürich
bis 7. Mai 2017.
Katalogbuch im Hirmer Verlag
272 Seiten mit 233 Abbildungen, geb., 2017, 49,90 € (D.).
Ernst Ludwig Kirchners Bilder vom pulsierenden Berlin der Jahre 1911 bis 1917 dienen heute als ikonographische Versinnbildlichungen der rasenden Metropole der sogenannten Goldenen Zwanziger. Eine umfangreiche Ausstellung im Kunsthaus Zürich bettet diese Schaffensperiode eines der bedeutendsten deutschen Expressionisten nun in das Œuvre ein.
Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) siedelte im Oktober 1911 von Dresden nach Berlin über. Zum einen war ihm das Leben im Sächsischen wohl zu langweilig. Zum anderen versprach sich der bislang erfolglose Künstler von der Umsiedlung sicher, bekannter zu werden.
Im Berlin ergab sich für Kirchner rasch ein neuer und interessanter Bekanntenkreis. Mit Max Pechstein gründete er sogleich eine Malschule, die die beiden wegen Erfolglosigkeit aber bald darauf wieder schlossen. Über Pechstein lernte Kirchner Herwarth Walden kennen, der damals eine Galerie leitete und eine Zeitschrift herausgab. In Waldens Kreis machte er Bekanntschaft unter anderem mit Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz), der als Psychiater praktizierte und in seiner freien Zeit schrieb.
© Ernst Ludwig Kirchner, Zwei Akte an einem Baum, Fehmarn, 1912/13
Privatsammlung
Kirchner tauchte ein in das ausufernde Leben der exzessive Möglichkeiten bietenden Großstadt – und litt gleichzeitig darunter. Bereits im Sommer 1912 dachte er in einem Brief laut darüber nach, nach Köln zu ziehen. Dazu beigetragen hatte wohl aber auch Kirchners belastende finanzielle Situation, die ihm kaum ein unbeschwertes Leben führen ließ. Kirchner schrieb: »Es ist schrecklich ordinär hier. Ich sehe, daß eine feine freie Kultur in diesen Verhältnissen nicht geschaffen werden kann und möchte fort, sobald ich diese große Baisse überwunden habe.«
Da sollte sich der Expressionist freilich gründlich irren. Jedenfalls aus heutiger Perspektive. Gehören doch gerade seine Bilder aus jener existentiell bedrohlichen Schaffensperiode zu den bedeutendsten in seinem Werk.
Parallel verbrachte Kirchner die Sommer zwischen 1912 und 1914 auf der Insel Fehmarn, die ihn stark beglückt hat. Sein längster Aufenthalt war im Sommer 1913; er dauerte zwischen 15 und 20 Wochen – genau ist das nicht mehr verifizierbar. In diesem Jahr machen die Fehmarn-Motive über die Hälfte seiner gesamten Produktion aus. Kirchner mußte mit seiner Frau den letzten Fehmarn-Aufenthalt im Jahr 1914 wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges am 1. August unvermittelt abbrechen.
Ernst Ludwig Kirchner,
Selbstporträt in der Atelierwohnung in Berlin-Friedenau, 1913/1915
Kirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 2001
Beide Inspirationsorte – sowohl Fehmarn wie auch Berlin – ermöglichten Kircher ein Bohème-Leben außerhalb der bürgerlichen Konventionen. Mag die Urlaubsinsel auf den ersten Blick als Gegenpol zu der hektischen Metropole erscheinen, so boten beide dem idiosynkratischen Maler auf ganz eigene Weise die Möglichkeit, Bewegung darzustellen. So ist es eines der Ziele dieser Ausstellung im Kunsthaus Zürich, eher die Gemeinsamkeiten der Schaffensorte für Kirchner als eventuelle Gegensätze zu betonen.
Die etwa 150 Werke umfassende Schau bettet diese besonders ergiebige Schaffenszeit Kirchners in sein Gesamtwerk ein, ohne die vorherige und nachfolgende Zeit auszulassen. So werden auch Skizzen und Holzschnitte zur Apokalypse gezeigt, Kirchners spätem Zyklus, die sonst eher selten zu sehen sind, da sich viele von ihnen in Privatsammlungen befinden. Überhaupt liegt ein Reiz dieser großangelegten Schau in der Vielzahl der Leihgaben nicht nur aus Europa.
Das mit der Ausstellung gut harmonierende Katalogbuch aus dem Hirmer Verlag bietet nach deren Besuch immer wieder die Gelegenheit, sich die herausragenden Bilder von Ernst Ludwig Kirchner in Ruhe zu betrachten. Profund recherchierte Essays über die Berliner Straßenszenen, Kirchner auf Fehmarn oder während des Ersten Weltkrieges laden auch Laien zur Vertiefung ein.