Pierre Drieu la Rochelle – Die Unzulänglichen

Der politische Visionär Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945)

 

 

 

Pierre Drieu la Rochelle, Die Unzulänglichen.
Aus dem Französischen von Gerhard Heller.
Mit einem Essay von Pierre Andreu und einem Vorwort von Benedikt Kaiser.
Jungeuropa Verlag, Dresden 2016, 556 Seiten, geb., 24 €.

 

 

Pierre Drieu la Rochelles Roman Die Unzulänglichen ist nach genau 50 Jahren endlich wiederveröffentlicht worden. Das Buch gilt bei Eingeschworenen als einer der besten Romane des 20. Jahrhunderts. Es könnte den Anstoß geben für eine Debatte, wie es mit Europa weitergehen soll.



Wer war Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945)? Dieser schillernde Schriftsteller, politische Akteur, Dandy, der noch heute, über siebzig Jahre nach seinem Freitod, frenetische Verehrer hat wie gleichzeitig ungefiltert gehaßt wird. Es gab wohl so einige große Abenteuer in seinem an Exzessen reichen Leben. Seine Eltern stammten aus der Bretagne und der Normandie. Geboren wurde er in Paris. Sein Vater soll ein Waschlappen gewesen sein, seine Mutter habe das Geld durchgebracht, so berichteten die Biographen. Erzogen wurde er von der Großmutter. Das Fehlen eines maskulinen Vorbildes führte ihn bereits in jungen Jahren zu einem Vorbild aus der Literatur: Julien Sorel ist der junge Dandy in dem großen Entwicklungsroman Rot und Schwarz von Stendhal. Der kommt aus einfachen Verhältnissen, liebt die Frauen und merkt früh, daß er als gutaussehender Mann die Damen der Gesellschaft für seinen sozialen Aufstieg nutzen kann. Drieu sollte sich ein Leben lang auf dieses Buch berufen.

 

 

Der Krieg als inneres Erlebnis. 1913 scheiterte der 20-Jährige beim Abschluß-Examen an der Sciences Politiques, womit sein Traum, in den Diplomatischen Dienst einzutreten, mit einem Schlag erledigt war. Bereits als Kind hatte Drieu viel über das Dasein nachgedacht. Nun hegt er ernsthafte Suizid-Gedanken. Er zieht in den Ersten Weltkrieg, der für ihn wie für seine gesamte Generation die entscheidende existentielle Erfahrung wird.

 

 

Danach, in der Zeit zwischen den beiden Kriegen erscheinen sieben Bücher von ihm. In den 1920er Jahren gehört er innerhalb der Generation der Frontkämpfer mit Henry de Montherlant und Louis Aragon zu einem der bekanntesten Literaten Frankreichs. 1934 erscheint Die Komödie von Charleroi, eine Sammlung von sehr persönlichen Erzählungen über seine Erfahrungen des Grabenkampfes, die 2016 erstmalig in deutscher Übersetzung erschien.

 

 

Drieu

 

 

Der Frauenmann. Nicht zufällig heißt Drieus erster Roman von 1925 L’Homme couvert de femmes, auf Deutsch Der Frauenmann (Ullstein Verlag 1972). Hier gestaltet er die Figur des Gilles, die er in späteren Roman weiterentwickeln sollte und die auch der Protagonist in den Unzulänglichen ist. Gilles Gambier ist von den Frauen zugleich angezogen wie abgestoßen. Auch sein Schöpfer Drieu ist vernarrt in das Verruchte der Prostituierten. Er sucht Nähe, die er selbst zu geben nicht imstande ist. Bereits während des Ersten Weltkrieges heiratet Drieu die Schwester eines Freundes. Nach ihrer Trennung soll kein Groll geblieben sein. Unter den diversen Beziehungen waren auch solche zu sehr reichen Frauen, die ihn eine Zeitlang finanziell unabhängig machten. So hatte Drieu eine lange Affäre mit der Gattin des Großindustriellen Louis Renault, Christiane Renault, die in den 1930er Jahren als reichste Frau Frankreichs galt.

 

 

Die Dekadenz. Drieu geißelt die Dekadenz. Er sieht die herrschenden politischen Parteien weit davon entfernt, der ‚alternden‘ Gesellschaft eine Perspektive geben zu können, sie zu erneuern. Außerdem hält er den bestehenden Nationalstaat für überholt und eine Einigung Europas für das Überleben des alten Kontinents für essentiell. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg sieht er die dringende Notwendigkeit, die soziale Frage zu klären, – obwohl er selbst zunehmend in mondänen Verhältnissen lebt und in den 1930er Jahren das Geld mit vollen Händen ausgeben kann.

 

 

Die jungen Männer, die den völlig sinnlosen wie brutalen Grabenkampf des Krieges überlebt hatten, kehrten noch stärker desillusioniert zurück nach Paris, als sie es schon zuvor gewesen waren. Drieu lernt die Surrealisten kennen und hat einige Zeit Kontakt zu ihnen. Ähnlich sind sie sich in ihrer Radikalität der Ablehnung bestehender Verhältnisse und im Spaß an der Provokation. Louis Aragon ist nach dem Krieg ein Freund. Doch schnell sieht Drieu die Differenzen und wirft den Surrealisten politische Blindheit und mangelnden Willen zur politischen Tat vor. In Mesure de la France, einem anspruchsvollen Essay von 1922, bezeichnet Drieu sich selbst als französischen Patrioten und zugleich europäischen Internationalisten. Nach einer kurzen Phase, in der er im Kommunismus das Heil sieht, plädiert er für ein vereintes Europa mit föderativer und sozialistischer Struktur. Genf, damals Sitz des Völkerbundes, dem Vorläufer der UNO, solle Hauptstadt des so erstarkenden Europa werden. In mehreren Artikeln wendet er sich Mitte der 1920er Jahre öffentlich von den Surrealisten ab und verlangt von ihnen und von Aragon persönlich eine Erklärung. Er bezeichnet die Surrealisten als »Bande« und fragt sie, wie sie den Osten dem Westen vorziehen könnten. »Was mich betrifft, kann ich den russischen Soziologen nicht mehr Glauben schenken, als den amerikanischen Ökonomen«, schreibt Drieu 1925.

 

 

Ernst Jünger (1895-1997)

 

 

Seit dieser Zeit wechselt er mehrmals die Parteien seines Engagements. Er mischt aktiv mit bei den Konservativen, dann bei den Linksliberalen, um schließlich bei den französischen Faschisten zu landen. 1936 tritt Drieu der faschistischen Parti populaire français von Jacques Doriot bei. In diesem und dem darauffolgenden Jahr konzentriert er seine Schreibtätigkeit auf den großen Roman Die Unzulänglichen und daneben nur noch wöchentlich einen Artikel für die Parteizeitung.
 
 

Die Unzulänglichen. Drieu hat in diesen Roman von Anfang an all seine Energie, sein Können und seine Philosophie gelegt. Gilles, wie das Buch im Original heißt, sollte sein Opus Magnum werden.

 

 

Die Erzählung setzt im Ersten Weltkrieg ein und endet im Spanischen Bürgerkrieg. Der deutschen Ausgabe ist das für ein Verständnis des Romans wichtige Nachwort angefügt, das erst in der zweiten französischen Auflage unter deutscher Besatzung 1942 enthalten war. Das erste Kapitel Der Urlaub schildert, wie der mittellose Gilles während eines Fronturlaubes in Paris die Schwester zweier gefallener jüdischer Kameraden zur Eheschließung verführt. Gilles treibt lediglich der soziale Aufstieg an, ein materiell sorgloses Leben. Unverkennbar ist dieses Kapitel von Stendhals Rot und Schwarz inspiriert und trägt zugleich starke autobiographische Züge. Gilles verachtet zutiefst die Drückeberger und Kriegsgewinnler, die in ihren beheizten Salons kluge Reden halten, während in den schlammigen Schützengräben wenige hundert Kilometer entfernt die europäische Jugend aufgrund ignoranter Fehlentscheidungen der Regierungen zusammengeschossen wird. Myriams Vater gehört gleich zu beiden Gruppen. Dennoch läßt sich Gilles von ihm protegieren und erhält so eine lukrative Stelle im Außenministerium.

 

 

Gilles‘ Leben im mondänen Paris, das Drieu in diesem Einstiegskapitel beschreibt, ist in der Literaturkritik bislang meist nur als Beschreibung der Zerrissenheit der Figur gesehen worden. Übersehen wird dabei, daß Drieu seinen Gilles wie in einem Rausch durch eine zutiefst desorientierte, »dekadente« Gesellschaft wandeln läßt. Alle sind nur auf ihren persönlichen Vorteil bedacht. Die Salons und Cafés, die Kinos und Absteigen der Prostituierten werden geschildert als sinnfällige nihilistische Orte einer dem Untergang geweihten Gesellschaft, – einer Kultur in ihren letzten Zuckungen. So ist der junge, kräftige und wißbegierige Gilles, mit seiner mittelbaren Todeserfahrung im Gepäck, nichts anderes als ein (poetischer) Spiegel der Epoche. Gilles‘ Geschichte ist auch Drieus Geschichte. Der Autor attackiert die ‚Dekadenz‘ so heftig, weil er ihr nicht entkommen kann. So ist Gilles‘ Schicksal nicht nur die Tragödie einer Generation, sondern vielmehr der existentialistische Schrei der Verzweiflung eines jungen Sinnsuchenden. So sind Drieu la Rochelles heroische Vereinfachungen des Politischen im Roman eine Voraussetzung dafür, daß eine ganze Generation die Spielregeln in generalis aufkündigt. »In der Unbarmherzigkeit dieser Bloßstellung«, konzedierte Joachim Sartorius, »liegt die Größe des Buches«.

 

 

Die Neuausgabe nach einem halben Jahrhundert
vom Jungeuropa Verlag

 

 

In den beiden folgenden Kapiteln Der Elysee-Palast und Die Apokalypse verschiebt sich der Blickwinkel der Handlung vom subjektiv-idiosynkratrischen des Protagonisten auf die Schilderung der gesellschaftlichen und politischen Zustände. Gilles engagiert sich vehement. Er nennt seine Ideologie zwar »Faschismus«, doch hat sie damit nur ansatzweise Überschneidungen. Drieu/Gilles geht es zuerst um die vollständige Beseitigung des bestehenden Systems, damit eine neue Gesellschaft geschaffen werden könne, die die nationalen Chauvinismen hinter sich gelassen hat, dabei den Regionen ihre Eigenständigkeiten läßt und als Wirtschaftsordnung einen humanen Sozialismus auf ihre Fahnen schreibt.

 

 

Gilles hat Kontakt zu einer Gruppe namens »Revolte«, eine unverhohlene Karikatur der Surrealisten. Ihnen wirft Gilles ihre Unschlüssigkeit und letztliche Unwirksamkeit vor. An den Kommunisten stört ihn deren bereitwillige Unterwerfung gegenüber Stalin. Drieu schildert Auswüchse von Korrompiertheit und Geltungssucht im politischen Alltag. Gilles flieht nach Nordafrika, um den Zuständen zu entkommen und sich zu sammeln. Zurückgekehrt gründet er eine politische Zeitschrift und versucht, die regierende radikalsozialistische Partei zu reformieren, was ihm freilich mißlingt.

 

 

Gilles Depressivität entspringt der völligen Ziel- und Gesinnungslosigkeit der Politiker: »Gilles hatte seine Einsamkeit mit der Seele Frankreichs verbunden.« Ein Schelm, wer dabei an heute denkt. Die Franzosen hatten Kirchen gebaut, sie wären dazu nicht mehr fähig, urteilt Gilles beim Anblick des unsäglichen Parteitages. »Kühnheit, Wagemut, schöpferische Äußerung des Glaubens waren im Plan, im Kopf des Baumeisters vorhanden, wenn er eine Kirche errichtete. Da stand der Baum, und daneben die Kirche; der Mensch hatte mit der Kirche auf die Herausforderung geantwortet. Jetzt errichtete man nur noch Verwaltungsgebäude oder Mietskasernen und Bedürfnisanstalten; nur selten Bauten, die schwach an die großen Entwürfe, den Stil jener Zeit der Jugend und der Schöpfung erinnerten, der Zeit der ausstrahlenden Liebe.«

 

 

Drieus Kollaboration. Nach einem Besuch in Deutschland glaubte Drieu, daß Hitler und der Nationalsozialismus diese Ordnung erreichen könnten. Daher diente er sich nach der Besetzung von Paris dem deutschen Botschafter Otto Abetz an. Dieser empfahl Drieu hingegen, sich in der Nouvelle Revue Français zu engagieren, wo sich die Möglichkeit böte, als intellektuelle Brücke zwischen Deutschem Reich und Frankreich zu fungieren. Im Juni 1940 gründete Drieu unter der Ägide des für die Zensur zuständigen Propaganda-Offiziers Gerhard Heller die traditionsreiche Literaturzeitschrift neu. Drieu wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Wortführer der Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Heller übersetzte in den 1960er und 70er Jahren fünf Romane für den Propyläen-/Ullstein-Verlag ins Deutsche, von denen als erster 1966 Die Unzulänglichen erschien.

 

 

Der Antisemit. Drieu hat sich nicht nur in seinen politischen Aufsätzen antisemitisch geäußert. Auch Gilles/Die Unzulänglichen ist unverhohlen anti-jüdisch. Beinahe scheint sich Gilles einen Spaß daraus zu machen, vom Geld seiner jüdischen Ehefrau ein mondänes Leben zu führen, um gleichzeitig über die Art und Weise, wie ‚die Juden‘ ihr Geld verdienten zu lästern. Liest man den Roman in seiner epischen Länge, so bekommt man allerdings das Gefühl, es verhalte sich bei Drieu häufig parallel: Das was er am meisten liebt, beschimpft er am stärksten. Die Frauen, Frankreich, die Kunst, das Leben… Und obwohl sich Drieu in seinen Schriften antisemitisch äußerte, hat er nach Aussagen vieler Zeitzeugen, niemals jemanden denunziert. Im Gegenteil: Nach 1945 bezeugten Kollegen und Bekannte, Drieu habe sich für sie – ohne davon einen Vorteil zu haben – eingesetzt. Einige verdanken ihm wohl ihr Leben.

 

 

Der Weg ins Freie. Victoria Ocampo, eine der engsten Weggefährtinnen und Empfängerin des letzten Briefes, den er am Tage seines Suizides schrieb, schildert Drieu 1952: »Noch heute sehe ich Drieu vor mir, wie er in seinem großen Überzieher, die Zigarette zwischen den Lippen, in großen Schritten diese Stadt (seine Stadt) [Paris] durchquert, die er anbetete, an der sein Leben mit der Anhänglichkeit einer Kletterpflanze festhielt und die er unaufhörlich beschimpfte wie ein haßerfüllter, rachsüchtiger Liebhaber.« Weiter schreibt die 1979 verstorbene argentinische Schriftstellerin: »Erst nachdem ich Drieus Bücher gelesen hatte, verstand ich, wie sehr diese Haltung Teil seiner ‚Philosophie‘ war oder, besser gesagt, seiner Art zu denken, seiner Art zu leben vielleicht: auf das zu spucken, was er liebte. Es im voraus zu zerstören aus Angst, der Zerstörung tatenlos zusehen zu müssen.«

 


Pierre Drieu la Rochelle wählte am 15. März 1945 den Weg ins Freie. Er entging damit sämtlichen Schmähungen und Beleidigungen, die über ihn ausgeschüttet worden wären. Er selbst schrieb abschließend: »Ich bin nicht nur Franzose, ich bin Europäer. Auch ihr seid es, unbewußt oder bewußt. Aber wir haben gespielt, ich habe verloren. Ich beantrage den Tod.« Auch sein alter ego Gilles greift am Schluß des Romans zum Gewehr. Das letztliche Ende sei nicht verraten.

 

 

Noch vieles könnte, müßte gesagt werden über diesen Humanisten, der für sein Handeln freiwillig den höchsten denkbaren Preis bezahlt hat. Die Wiederveröffentlichung dieses literarischen Meisterwerkes ist Gelegenheit, einen besonderen Schriftsteller, überzeugten Europäer und substantiellen Intellektuellen neu zu entdecken. Schließlich gehörte Drieu zu der winzigen Schar einer tatsächlichen Elite, die versuchte am Rande des scheinbar möglichen während des Dritten Reiches die Zeit danach vorzubereiten: Drieu la Rochelle, Ernst Jünger, Hans Speidel und andere. Es steht an, sich mit diesem schwarzen Loch der Geschichtsschreibung zu beschäftigen.

 

© Matthias Pierre Lubinsky 2017