Bruce Springsteen mit seiner 1960er Chevrolet Corvette, ca. 1977
© Frank Stefanko
Bruce Springsteen, Born to Run.
Die Autobiografie.
672 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag und Leseband, Heyne Verlag 2016, 27,99 Euro (D).
Bruce Springsteen, US-Rockstar der Superlative, legt seine Autobiographie vor: Auf 672 Seiten erfahren wir nun, wie es um sein Seelenleben wirklich bestellt war. Born to Run ist nicht nur für Fans lesenswert. Ein Lebensbericht, der in seiner tiefgründigen Wahrhaftigkeit auch den Leser verändert.
Sonntag, 19. Juni 2016, Berlin Olympiastadion. Es ist kurz vor zehn Uhr abends. Die Sonne verabschiedet sich hinter dem Horizont und ist unter dem vorgezogenen Dach des Stadions nur mehr mit ihrem Abschiedsleuchten in den dunkelblauen Wolken auszumachen. Bruce Springsteen schreit „one two“, – und dann kommt das Anfangsgrollen von Born to Run. Sofort tobt die ausverkaufte Arena. Der gesamte Innenbereich singt wie ein Chor den Takt mit: „Oh ho ho hohohoho…“.
Wir sind wieder zusammen. Bruce und die E Street Band – wo wart ihr so lange? Aber das ist jetzt, in diesem Moment, vergessen. 68.000 Begeisterte feiern nun mit ihrem Idol. Und Springsteen-Konzerte sind immer solche Feste. Das hat neben der ungeheuren Life-Performance von Springsteen und seiner legendären E Street Band eine Reihe von weiteren Gründen: Der Rocker verausgabt sich bei jedem einzelnen Gig vollständig – und erwartet das auch von seiner Band. 4-Stunden-Konzerte sind die Regel. Eine Pause macht der Boß, wie er liebevoll genannt wird, schon seit Jahren nicht mehr. Dazu kommt die Spielfreude der Band; ihre Routine. Fast alle der Musiker könnten die Songs wohl buchstäblich im Schlaf perfekt intonieren und treiben als Teil der Band diese powervolle Rockwalze mit voran.
Stets im Hier und Jetzt. Alle diese Fakten übersehen aber eines: Bruce Springsteen wird von seinen Fans weltweit geliebt und respektiert, weil er etwas eigentlich Unvorstellbares tut. Er interpretiert seine Musik jedes einzelne Mal, wenn er auf der Bühne steht, immer wieder von neuem. Er präsentiert seine Hits wie Thunder Road, The River, Born in the USA oder 49 Shots jeweils im Jetzt und Hier. Betrachtet man sein Gesicht dabei, so sieht man, daß er in diesem Moment mental vollständig in dem Song lebt. Das ist umso erstaunlicher, bedenkt man, daß viele dieser Rock-Ikonen-Lieder mittlerweile 40 Jahre alt sind.
Born to Run heißt auch Springsteens drittes Album. 1975 erschienen, hatte er hier nach den ersten beiden nicht sehr erfolgreichen Platten den Anspruch, eine Platte zu machen, die bleibt. Die den Hörer berührt und die er nicht vergißt. So sollte es kommen.
Born to Run ist eine Ikone der Rock-Musik. Es war nicht nur die erste LP vom Boß, die sich gut verkaufte. Inzwischen gilt die Platte als eines der bedeutendsten Rock-Alben überhaupt. Praktisch alle auf ihm enthaltenen einzelnen Songs haben Kultstatus und werden von Rockfans nach den ersten Takten erkannt und mitgesungen.
Die Verbindung der Fans zu Bruce Springsteen scheint wirklich eine enge zu sein. Das ist nicht nur fanatische Gefolgsamkeit. Regelmäßig gerührt ist der Mega-Star, wenn seine Fans den Song mitsingen, den er gerade erst anschlägt. Und dies vor allem in Ländern, in denen nicht native Englisch gesprochen wird, wie in Spanien oder Deutschland. So hatte er mit der E Street Band einige der legendärsten Auftritte in Barcelona. Von einem gibt es eine beeindruckende DVD. Legendär ist der Moment eines Stadionkonzertes, bei dem Bruce Springsteen gerade die ersten Töne der Mundharmonika entlockt zu Thunder Road, als ein technischer Defekt für einen Stromausfall sorgt und damit für Stille. Daraufhin sangen Zehntausende die ersten Strophen des Songs, der auch sie seit vielen Jahren bei den Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitete. Springsteen schien auf der Bühne mit seinen Fans zufrieden zu sein, wie sein Lächeln verriet. – Der Strom kam wieder und der Star und seine Hörer waren tiefer vereint als zuvor.
Nun also die Autobiographie. Springsteen arbeitete an ihr insgesamt sieben Jahre lang. Nach seinem Auftritt mit der E Street Band in der Pause des US-Super Bowl-Finales 2009 hatte er beschlossen, sein Musiker-Leben aufzuschreiben.
Erfolg und Wahnsinn. Hat man diesen etwa 12-minütigen Power-Gig gesehen, so wird eines der großen Motive dieser umfangreichen Autobiographie deutlich: Springsteen schuftete sein gesamtes Leben auf den großen Erfolg, auf den absoluten Durchbruch als Musiker hin. Als der dann da war, drohte er ihn zu erdrücken. Als Springsteen 1957 als Sechsjähriger im Fernsehen einen Auftritt von Elvis sieht, ist er völlig elektrisiert. Dieser Rocker mit seinen schwingenden Hüften geht ihm nicht mehr aus dem Sinn. Nachdem ihm seine Mutter einige Jahre später mit dem allerletzten Geld die erste Gitarre kauft, kann es losgehen. Dachte Bruce jedenfalls. Doch leider ist der Anfang mühsam, kann er doch die Gitarre kaum in seinen kleinen Händen halten. Solche Schwierigkeiten ziehen sich durch die ersten Jahre. Springsteens Ehrgeiz und Talent sind allerdings so groß, daß er da hinkommen sollte, wo er hingekommen ist.
Der Auftritt beim Super-Bowl-Finale zeigt, wie der US-Kapitalismus alles in seine Mitte zieht, sämtliche Kultur absorbiert. Springsteen, der in dem Buch betont, sich in einer Tradition von engagierten US-amerikanischen Singer-Songwritern zu sehen wie Woody Guthrie und Bob Dylan, hat viele kritische Songs geschrieben. Er unterstützt aktiv Vietnam-Veteranen-Verbände und fordert seine Konzert-Besucher dazu auf, genau hinzusehen, was in seinem Land geschieht. Im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 11. September 2001 schreibt der Rock-Musiker: »Wenn dem Durchschnittsbürger derart großer Schaden zugefügt werden kann, ohne dass jemand dafür ernstlich zur Verantwortung gezogen wird, dann ist das Spiel aus. Der dünne Schleier der Demokratie entpuppt sich als genau das, was er in Wahrheit ist: eine dürftige Tarnung für die zunehmende Plutokratie, in der wir jetzt und auch in Zukunft leben.« Beim Super-Bowl hat er eine knappe Viertelstunde Zeit, um einige seiner Rock-Knaller abzufeuern. Die riesige Menge im Stadion und Millionen an den Fernsehern sehen ihn – und dann-? – Es geht weiter wie bisher.
Der Schatten des Vaters. Neben Springsteens Begeisterung für die Musik gibt es ein zentrales anderes Motiv in seinem Leben und damit auch in diesem Buch: seinen Vater. Springsteens Fans wußten von der Schwierigkeit dieser Beziehung schon länger, nutzt der Musiker doch Pausen zwischen den Songs bei Konzerten manchmal für kurze Erzählungen oder Statements. Es existieret eine ganze Reihe von Live-Aufnahmen, auf denen er erzählt, wie er als junger Mann abends nach Hause kommt und sein Vater – wie immer mit einer Zigarette in der Hand beim Sixpack Bier – schweigend in der dunklen Küche sitzt. Sein Vater hat ihn kaum beachtet und selten etwas Nettes zu ihm gesagt. Die ganze Liebe erhielt Bruce von seiner italienisch-stämmigen Mutter und deren Schwestern. Sie verwöhnten den kleinen Bruce dafür umso mehr, wie er nun 60 Jahre später berichtet. Ein Höhepunkt des Vater-Sohn-Konfliktes passierte, als der Vater gegenüber der Mutter handgreiflich wurde. Bruce bekommt es in seinem Zimmer darüber mit, eilt herunter – und schlägt den Vater nieder. Dies alles schildert Springsteen sehr eindrücklich und ohne Pathos.
Diese dicke Autobiographie ist ergreifend, einnehmend. Deutlich wird, was die abgedroschene Formulierung vom ‚Star zum Anfassen‘ wirklich ausmacht. Erstaunlich und zutiefst berührend ist vor allem die große Offenheit, mit der der heutige Mega-Star über seine jahrelangen psychischen Probleme spricht. So wird der starke Motor seiner Kraft, seines Willens und der Perfektion offenbar.
© Matthias Pierre Lubinsky 2016