Eine echte Liebeserklärung: Marc Augés schönes Büchlein über das Französische Bistro
© Matthes & Seitz Berlin 2016
Marc Augé, Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung.
Matthes & Seitz Berlin Verlag 2016, 118 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 15 Euro (D.).
Das Pariser Bistro. Gibt es ein stärkeres Emblem für die französische Lebensart? Marc Augé widmet dem Bistro ein literarisches Denkmal.
Das Pariser Bistro. Zugleich Treffpunkt und Anlaufstelle. Ein Ort, an dem man auf dem Nachhauseweg mal kurz halt macht, – wo man aber noch nicht zuhause ist. Oder doch? Oder von dem der Pariser seinen Tag beginnt. Eine Art von Zwischenraum zwischen zuhause und der Welt. Das Bistro ist zugleich ein öffentlicher Ort wie ein erweitertes Wohnzimmer. Marc Augé schenkt dieser französischen Kulturinstitution mit seinem Büchlein Das Pariser Bistro – Eine Liebeserklärung einen individuellen Dank, der Allgemeingültigkeit besitzt.
In wunderbarer nonchalanter Sprache schildert der Autor die Summe der Gesten, die hier stattfinden. Da ist die unprätentiöse Begrüßung der Stammgäste. Sobald er sein Stammbistro betritt, stellt François, der Servierer, eine Tasse unter die Kaffeemaschine und fertigt ihm einen starken Espresso. Es werden stets dieselben Rituale zelebriert. Überhaupt scheint dies eine der fundamentalen Eigenschaften des Bistros zu sein. Kommentarlos schiebt der Mann hinter dem Tresen dem bekannten Gast einen Teller mit frischen Croissants hin, dem ein kleiner Teller mit Papierservietten folgt. Er dreht sich kurz um, um dann lächelnd den Kaffee zu servieren. »Wie geht’s heute Morgen? Gut in Form?«
Dieses Ritual läuft wie von einer imaginären Maschine gesteuert jedesmal ab. Und es läuft quasi identisch ab. Das ist die Qualität des Bistros. Man kennt sich, ohne sich zu kennen. Sind mehrere Stammgäste anwesend, so werden auch schon mal Belanglosigkeiten über das Wetter oder ähnliches ausgetauscht. Wobei von Austausch keine Rede sein kann, denn das Bistro macht es ja gerade aus, dass man in Ruhe gelassen wird. Daß man nicht belästigt wird.
Marc Augé schildert die Rituale, das zelebrierte Alltägliche in all seinen Facetten. Man kennt sich, ohne sich tatsächlich zu kennen. Man respektiert sich, schätzt sich vielleicht sogar. Aber nur solange, wie es zu keinen Brüchen des Gewohnten und Erwarteten kommt. Augé erzählt, wie er einmal die Serviererin seines Stammbistros vor demselben sitzen sieht. Zuerst erkennt er sie gar nicht. Als er beim Vorbeigehen erkennt, daß sie es ist, ist er sogleich peinlich berührt und vermeidet die Begrüßung. Das einstudierte Rollenbild würde sonst zerstört.
Marc Augé ist französischer Anthropologe. Berühmt ist seine Definition des Nicht-Ortes, womit er mono-funktional genutzte Flächen im urbanen und suburbanen Raum meint. Dazu zählt er beispielsweise Einkaufszentren, Autobahnen, Bahnhöfe und Flughäfen. Augé sieht den essenziellen Unterschied zum anthropologischen Ort im Fehlen von Geschichte und Identität, sowie in einer kommunikativen Verwahrlosung.
So kann sein immanentes kleines Büchlein auch gelesen werden als Ergänzung seiner Theorie. Seine Hommage an das Pariser Bistro ist mithin auch die Revolte gegen die fortschreitende Verwahrlosung des öffentlichen Raumes. Diese Verwahrlosung ist eben auch eine Folge der globalisierenden Gleichmachung. Wollen wir wirklich, daß die Innenstadt von Barcelona genauso aussieht wie der Kurfürstendamm in Berlin? Starbucks, McDonald’s, H&M, dazu noch dieselben weltweit agierenden Hotel-Ketten. Das kleine Büchlein von Marc Augé lädt auch dazu ein, sich mit seinen Theorien zu befassen.
© Matthias Pierre Lubinsky 2016