Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945)
Pierre Drieu la Rochelle, Die Komödie von Charleroi. Erzählungen.
275 Seiten, geb. mit Schutzumschlag und Leseband, Manesse Verlag, Zürich 2016, 24,95 Euro.
Eine literarische Sensation: Die erste deutsche Erstveröffentlichung von Pierre Drieu la Rochelle nach exakt 30 Jahren: Nach den wahrlich ungeheuren Tagebuchauszügen Geheimer Bericht im Jahr 1986 bei Matthes & Seitz erscheint im Manesse Verlag nun Die Komödie von Charleroi. Es sind sechs Erzählungen des französischen Dandys über seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg.
Drieu la Rochelle (1893-1945) ist in Deutschland nur Eingeweihten ein Begriff. Am bekanntesten ist noch die Verfilmung seines Romans Das Irrlicht (Originaltitel: Le feu follet) von Louis Malle aus dem Jahr 1963. Der herausragende Schwarzweißfilm zeigt den bedrückenden Abschied eines Suizidärs von Freunden und der Gesellschaft, wo ihn niemand vermissen wird.
Drieu hat es dem Publikum nicht leichtgemacht, ihn zu mögen. Seine handfeste Kollaboration mit den Deutschen während der Besatzung von Paris in den 1940er Jahren ließ deutsche und französische Intellektuelle seine Bücher nach dem Krieg nur mit spitzen Fingern anfassen. Drieu hat sich selbst als ‚Faschist‘ bezeichnet, doch ist auch das nur von begrenztem Aufklärungswert. Bereits früh lehnte er die Demokratie ab. Seine Erfahrungen an der Front des Ersten Weltkriegs schufen in ihm das Bewusstsein, dass Frankreich von Versagern und korrupten Eliten geführt würde.
Drieu ist nicht leicht zu greifen. Einerseits zutiefst politisch und über die längste Strecke seines Lebens stark engagiert, war er andererseits Romantiker, politischer Träumer. Ein echter Dandy eben. Um 1934 trat zu seinem politischen Radikalismus ein überbordender Antisemitismus hinzu. Bei Drieu intendiert jedwede Zuschreibung stets ein ‚Andererseits‘. Sein Judenhass hinderte ihn nicht, eine jüdische Frau zu heiraten und deren Vermögen in kurzer Zeit durchzubringen.
Drieus primäre Eigenschaften? Dandy, homme couvert de femmes, Soldat, homme de lettres, homo politicus.
Dandy. Obwohl Mann der Tat, verkörperte er den reinrassigen Dandy: Er konnte Geld für schöne Dinge in unendlichen Mengen verprassen. Da ergab es sich vorteilhaft, gleich mehrere der reichsten Frauen Frankreichs zu heiraten (hintereinander). Er war stets von tadelloser Kleidung, bevorzugte dabei den Anzug nach englischem Stil; stets mit Einstecktuch. Er hatte tadellose Manieren, so er denn wollte, hausierte gediegen.
Homme couvert de femmes siehe oben. Außerdem war er von grandioser Grandezza, im Deutschen fehlen uns ein wenig die Worte dafür. Chameur, Verführer ohne dies sogleich auf das Sexuelle zu beziehen. Dafür hatte er verschwenderischen Umgang im Bordell. Doch wen ließ er wirklich an sich heran?: »Ich spanne immer, und ich genieße nie«, bekannte er im Tagebuch. Er konnte den Frauen zuhören; – sie hatten das Gefühl einem Gleichgesinnten gegenüberzusitzen. Aber ließ er mehr zu?
Soldat. Soldat in der tiefsten Faser von Körper und Geist. Obwohl eher schmächtig gebaut, war er sich dessen bewusst und dennoch draufgängerisch. Hierzu gehört auch ein essentielles Ehrgefühl – so seine Befürwortung des Duells – und sein Mut wo die meisten anderen kneifen, wie an der Front.
Homme de lettres. Ein Schriftsteller von Rang. Veröffentlichte um die 40 Bücher. Zu seinem Stil gleich mehr.
Homo politicus. Stets politisch denkend und handelnd. Drieu verfasste eine dreistellige Zahl von politischen Aufsätzen und war bemüht, an einer Einigung Europas unter faschistischer Führung, dann unter kommunistischer und später wieder faschistischer Herrschaft das Wort zu reden. Am Ende seines Lebens sah er das gesamte politische Engagement als sinnlos an und wandte sich dem Hinduismus zu. Drieu: »Ich wollte ein ganzer Mann sein, nicht nur eine Regierungsratte, sondern auch ein Mann der Tat, der Verantwortung übernimmt, der Schläge empfängt und austeilt. Gewiß. Aber da spielte ebenso viel Eitelkeit wie Mut hinein. Und ich werde es immer bedauern, in diesen letzten Jahren den Posten nicht angenommen zu haben, der unbesetzt geblieben ist: den Posten des Dandy, des unerbittlich nonkonformistischen Mannes, der sich allein in dem einen oder anderen Sinn gängigen Torheiten verweigert und der eine frevelhafte Gleichgültigkeit diskret, aber entschlossen an den Tag legt.«
La comedie de Charleroi, das nun zum ersten Mal in Deutsch erscheint, versammelt sechs unterschiedlich lange Erzählungen, in denen Drieu seine Erlebnisse an den Fronten des Ersten Weltkrieges schildert. Sie sind unverhohlen autobiographisch, denn der Schriftsteller war nachweislich an den Orten, die er beschreibt. Die erste Erzählung, die dem Buch den Titel gibt, ist die längste. Sie erschien erstmals als Vorveröffentlichung in der pazifistischen Zeitschrift Europe. Die Erzählungen erschienen als Buch in Frankreich 1934.
Obwohl Drieu alle Geschichten im Jahr 1933 schrieb, ist ihr Tonfall erstaunlich unterschiedlich. Sie zeigen ihn als großen Stilisten. Deutlich wird, dass der Autor eben kein Nationalist war, sondern überzeugter Europäer – auch wenn man den von ihm favorisierten Weg zur Einigung Europas infrage stellen mag. Bitterböse ist seine Abrechnung mit der Unfähigkeit und Feigheit der militärischen Vorgesetzten. Schon die Handlung von Die Komödie von Charleroi ist süffisant: Die gealterte Mutter eines gefallenen Kameraden beschäftigt den Ich-Erzähler nach dem Krieg als ihren Sekretär. Kaum verholen erkennen wir Julien Sorel aus Stendhals Rot und Schwarz wieder: »Nach Kriegsende und ohne meinen Sold war ich sehr froh, von heute auf morgen diese Stelle zu finden, die mir die Zeit verschaffte, eine andere zu finden. Weil ich leider faul, wenig intrigant und ganz benommen war inmitten des zivilen Lebens, blieb ich da hängen.«
Kunstvoll verwebt der Autor in dieser Novelle die Handlung mit Rückblenden in die martialischen Grabenkämpfe. So entsteht ein atemberaubender Plot, der einen ein wenig an das französische Kino der nouvelle vague erinnert. Der dandyeske Sekretär besucht mit der Mutter des gefallenen Kameraden den Friedhof, auf dem dieser beerdigt wurde und schildert die Atmosphäre: »Eine Illusion von Stille, von Nichts. Konnte ich diesem Zauber sanfter Gräser und verträumter Bäume nachgeben? Nein, denn ich erinnerte mich, dass ich mir an jenem Tag des Kampfes, als das Leben so schmerzlich war, nicht dieses Nichts gewünscht hatte, das man sich gemeinhin wünscht, wenn man sich den Tod wünscht. Das ist das Wohltuende am Handeln.«
Die sechs Erzählungen des Buches sind unterschiedlich lang. Alle handeln von den Erlebnissen Drieus an der Front des Ersten Weltkrieges. Die Komödie von Charleroi ist dabei ein Schlüsseltext zum Verständnis von Drieus Psyche. Er ging in den Krieg wie andere ins Duell oder ins Kloster. Um eine tiefe Erfahrung zu machen, um die Seele zu häuten. Drieu wollte womöglich seine Kindheit endgültig loswerden. Den Schwächling abstreifen. Doch die Ernüchterung kam schnell: Die totale Unfähigkeit der militärischen Führung und die absolute Sinnlosigkeit des Tötens abertausender junger Männer, Franzosen, Deutsche, Belgier und sogar Australier, lassen ihn den modernen Krieg als Sinnbild der Verrohung des Lebens schlechthin erscheinen.
Aber eines verdankt er der Schlacht. Sie gab ihm die Möglichkeit, zum Helden zu werden, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Eine Schlüssel-Szene in der Komödie von Charleroi ist denn auch genau diese Schilderung:
»Jetzt in dieser Ebene aber ging ein Ruck durch mich. Alle meine Kräfte vereinten sich zur Hoffnung. Und diese Hoffnung war, dass die Ereignisse über die dumme alte, in ruhigen Tagen ausgebildete Hierarchie das Urteil sprechen würde. Gott würde die seinen erkennen; diese Ebene war die Richtstätte. Der Krieg interessierte mich, weil ich Hauptmann, Oberst werden würde – viel besser noch: Anführer. […]
Da geschah plötzlich etwas Außerordentliches. Ich hatte mich erhoben, erhoben inmitten der Toten, inmitten der Geister. Ich habe erfahren, was Gnade und Wunder bedeuten. Es ist etwas Menschliches in diesen Wörtern. Sie bedeuten Fülle, Frohlocken, Entfaltung – bevor sie Ausuferung, Überspanntheit, Trunkenheit meinen.
Auf einmal kannte ich mich, kannte ich mein Leben. Das war also ich, dieser Starke, dieser Freie, dieser Held. Das war also mein Leben, dieser Aufbruch, der nie mehr enden würde.«
Selbstironisch spricht Drieu dann in dieser und in den folgenden Erzählungen vom Zerfallen seiner Euphorie. Eine besondere Erwähnung verdient die gelungene Übersetzung von Andrea Spingler und Eva Moldenhauer. Sie lässt den Leser vergessen, dass die Erzählungen aus dem Französischen übertragen worden sind.
© Matthias Pierre Lubinsky 2016