Orpheu – Der jüngste Band der verdienstvollen Werkausgabe
© S. Fischer Verlag 2015
Fernando Pessoa, Orpheu
Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst.
Herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen von Steffen Dix.
S. Fischer Verlag 2015, 397 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 26,99 Euro (D).
Fernando Pessoa ist hierzulande vor allem bekannt für seinen Roman Das Buch der Unruhe. Dabei war der Portugiese mehr als ein Schriftsteller. Der neueste Band in der Werkausgabe zeigt ihn als Denker, Philosophen und Provokateur.
Fernando Pessoas (1888-1935) Entdeckung wurde für die Literatur oft verglichen mit der Entdeckung eines bislang unbekannten Kontinents. Pessoa lebte weitgehend zurückgezogen in Lissabon als Übersetzer von Handelspapieren. Zu Lebzeiten hatte er unter seinem eigenen Namen nur ein einziges Buch veröffentlicht: In Mensagem (Botschaft) ließ er den Ruhm der portugiesischen Nation auf mystisch-okkultistische Weise hochleben. Als Pessoa 1935 mit 47 Jahren an Leberzerrhose starb, war er in der portugiesischen Hauptstadt nur wenigen Eingeweihten bekannt.
In einer riesigen Kiste hatte er jedoch beinahe 35.000 Manuskriptseiten hinterlassen. Aus fragmentarischen Aufzeichnungen friemelten Literaturwissenschaftler dann unter anderen Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares zusammen, das 1982 erschien. Seine schwere Melancholie traf den Nerv der Zeit und sorgte in ganz Europa für eine Pessoa-Euphorie.
Der S. Fischer Verlag setzt nun die ursprünglich vom Zürcher Amman Verlag begonnene verdienstvolle Werkausgabe fort mit dem Band Orpheu – Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst. Herausgeber Steffen Dix, der die Texte auch aus dem Englischen übersetzte, versammelt Fragmente und teils damals veröffentlichte Texte, in denen Pessoa sein Gedankengebäude entwirft. Der Titel Orpheu ist entnommen der gleichnamigen Zeitschrift, die Pessoa mit zwei Freunden gegründet hatte und die 1915 nur zwei Mal erschien. Sie war als Vierteljahresschrift geplant, doch ging den jungen Literaten wohl alsbald das Geld aus.
Aber tatsächlich hatten zwei Ausgaben genügt, um die Zeitungen gegen sich aufzubringen. Die Beschimpfungen gipfelten im Vorwurf, die Autoren von Orpheu gehörten in eine Irrenanstalt. Ob die Macher mit dieser Heftigkeit der Anfeindungen gerechnet hatten, ist heute ungewiß. Aber immerhin hätten sie es tun sollen. So schrieb Pessoa unter einem seiner zahlreichen Heteronyme ein Gedicht mit dem Titel Triumph-Ode:
Ach, und all diese ordinären und schmutzigen Leute, die sich immergleichen,
Die in aller Selbstverständlichkeit Schimpfwörter benutzen,
Deren Söhne an den Türen der Lebensmittelläden stehlen,
Und deren Töchter mit acht Jahren – und das finde ich schön und liebe es! –
Dezent aussehende Herren in den Treppeneingängen masturbieren. […]
Das Gros der hier versammelten Texte ist hingegen theoretischer Natur. Pessoa entwirft seinen Sensationismus als literarische Richtung. Sein Schöpfer stellt indes klar: »Der Sensationismus unterscheidet sich von geläufigen literarischen Strömungen darin, nicht exklusiv zu sein, er beansprucht also für sich nicht das Monopol des einzig richtigen ästhetischen Gefühls«.
Zu entdecken ist Fernando Pessoa als philosophischer Denker, als moderner Erneuerer der portugiesischen Literatur von einem geistigen Fundament aus.
© Matthias Pierre Lubinsky 2016