Füllt eine Lücke: Die chronologische Sammlung von Äußerungen über Walter Benjamin
© Lehmstedt Verlag 2015
Begegnungen mit Walter Benjamin.
Herausgegeben von Erdmut Wizisla, 400 Seiten, geb., Lehmstedt Verlag, Leipzig 2015, 24,90 Euro (D).
Walter Benjamin ist einer der herausragenden Intellektuellen Deutschlands der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Viele kennen sein Werk – in Teilen wenigstens. Aber wer war dieser Schriftsteller und Übersetzer persönlich? Das Buch Begegnungen mit Benjamin bringt erstmals sämtliche bislang veröffentlichten Äußerungen in gesammelter Form.
Wir alle kennen Walter Benjamin (1892-1940). Will sagen: Wir haben irgendetwas von ihm gelesen. Die beiden berühmten dunkelblauen Bände des Passagen-Werks völlig zerlesen und mit möglichst vielen Anmerkungen im Bücherregal zu haben, ist ein Ausweis von Intellektualität. Man kennt Benjamins Fragmente zu Baudelaire. Doch kaum jemand weiß, daß Walter Benjamin einer der ersten in Deutschland war, der die Bedeutung von Marcel Proust erkannte. Zusammen mit Franz Hessel übersetzte er den zweiten und dritten Band der À la recherche du temps perdu.
Der Leipziger Lehmstedt-Verlag veröffentlicht nun eine sehr verdienstvolle Sammlung: Auf beinahe 400 Seiten enthält der geschmackvoll gebundene Band Erinnerungen, Berichte, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Bekannten Benjamins. Verdienstvoll ist das Buch aus vielerlei Gründen. So finden sich hier nun zum ersten Mal wohl sämtliche bisher publizierten Äußerungen des 1940 durch einen Freitod an der französisch-spanischen Grenze ums Leben Gekommenen. Die meisten Texte waren bisher schwer auffindbar, da sie in kleinen Zeitschriften oder anderswo eher abseitig publiziert worden sind. Doch – wie der Literatur-Connaisseur weiß – schmälert dies keinesfalls ihren Wert. Ganz im Gegenteil, erscheinen doch häufig die interessantesten Aufsätze der Literaturwissenschaft in sehr kleinen Zeitschriften. Nun sind sie endlich alle zwischen zwei Buchdeckeln zu finden.
Ausdrücklich zu begrüßen ist auch die chronologische Ordnung der insgesamt 39 Texte von 33 Autoren. So entsteht durch die Lektüre des Buches eine Dichte, wie sie sonst nur eine gute Biographie herzustellen vermag.
Übereinstimmend beschreiben viele Weggefährten Benjamin in seiner Erscheinung als recht schüchtern und anfänglich sehr zurückhaltend. Gershom Scholem, der einige Jahre mit Benjamin eng befreundet war, schreibt:
Benjamin machte, wenn man ihn kennenlernte, einen überaus merkwürdigen Eindruck. Er war von größter Zivilität; ich pflege – wenn ich von ihm spreche – zu sagen, er hatte eine chinesische Höflichkeit im Umgang mit Menschen, und zugleich war an ihm ein sehr starkes Element der Zurückhaltung, das sich sehr langsam im Verkehr mit Menschen auflöste. Er war sehr empfindlich und argwöhnisch, wenn man ihm persönliche Fragen über ihn stellte.
Scholem, der 1923 nach Palästina auswanderte, schildert wie stark ihn der fünf Jahre ältere Freund intellektuell beeinflußt hatte.
Hilfreich und klug sind die kurzen Erläuterungen, die Herausgeber Erdmut Wizisla den Texten voranstellt. Wizisla leitet das Walter Benjamin- und das Brecht-Archiv an der Akademie der Künste, Berlin. Neben den wichtigsten biographischen Daten zum Autor erfährt der Leser jeweils das Relevante zur Beziehung mit Benjamin. So liest man über den amerikanischen Schriftsteller Edouard Roditi, der in einer Biographie über Oscar Wilde das Dandytum des Iren herausgearbeitet hat, daß Roditi nach dem Krieg in einem Brief Adorno mitteilte, wieviel Benjamin dem Kollegen Ernst Jünger bedeutet haben soll. Das ist allerdings fraglich, weil die beiden Antipoden waren. Im umfangreichen Tagebuch von Jünger wird Benjamin nicht ein einziges Mal erwähnt. Von Bedeutung, aber wohl nicht mehr zu beweisen ist dabei, inwieweit sich Jünger während der deutschen Besatzung für seinen Kollegen Benjamin beim Generalstab eingesetzt hat. Erwiesen ist, daß Jünger sich für viele Bedrohte intensiv verwandt hat, beispielsweise für den Nationalbolschewisten Ernst Niekisch, in dessen Berliner Wohnung er kompromittierende Unterlagen verbrannt hat.
Überhaupt fällt die häufige Übereinstimmung bei den Charakterisierungen der Bekannten auf. Benjamin wird immer wieder als guter Rhetoriker beschrieben, der es geliebt habe, seine Ideen quasi am Gesprächspartner zu entwickeln. »Er liebte es, Theorien zu formulieren«, sagt Jean Selz, der mit Benjamin lange Monate auf Ibiza verbrachte. Obwohl sein Verhalten oft wie ein versunkener Monolog gewirkt habe, erzählen viele Freunde, habe er Widerspruch dankbar aufgenommen. Diese hinzugewonnene Dialektik habe sich dann manchmal auch in den späteren Publikationen Benjamins wiedergefunden.
Besonders berührend sind die letzten Dokumente in dem wohlfeilen Band. Der Freitod von Walter Benjamin sorgte noch einmal für eine tiefe Erschütterung bei Weggefährten und (ehemaligen) Freunden, worin hier ein intimer Einblick gewährt wird. Sichtlich bewegt schreibt Theodor. W. Adorno nach dem Suizid Benjamins an Gershom Scholem: »Ich weiß überhaupt nicht, wie es nach dem Tod von Walter weitergehen soll«.
© Matthias Pierre Lubinsky 2015