Der Augenblick und die Vergänglichkeit bei Stefan George:
Margherita Versaris Studie über die Zeit im Werk des Dichters
Margherita Versari, Figuren der Zeit in der Dichtung Stefan Georges. Aus dem Italienischen übersetzt von Stephan Oswald. 121 Seiten, Paperback, Verlag Königshausen & Neumann 2013, 19 Euro.
Die großen Kirchenväter des dandysme eint neben ihrem Streben nach Formvollendung vor allem eines: Sie suchten mit ihrem Werk und ganzen Sein aus der Zeit herauszutreten, die sie umgab wie die Wellen des Meeres.
Dies haben Charles Baudelaire, Stefan George und Ernst Jünger gemein – bei allen erheblichen Unterschieden ihrer je eigenen Flucht aus der Zeit. George hat sich mit zeitgenössischen Philosophen auseinandergesetzt, so mit Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler und wollte dennoch in der Reflexion von historischen Entwicklungen nicht verfangen bleiben. Vielmehr schien bei ihm der rasende technische und wissenschaftliche Fortschritt als Antrieb zu wirken, ein poetisches Gegenbild zu entwickeln. Der Modalität von Zeiterfahrung wollte er eine mythologische Vision entgegenstellen. Er sah das menschliche Leben nicht in historisch-materialistischer Entwicklungslogik eingebettet. George interpretierte das Leben dagegen integriert in einen Zyklus, dessen Plan in den Sternen stehe.
Margherita Versari schreibt in Figuren der Zeit in der Dichtung Stefan Georges, in dieser Kreisbewegung gründe sich die stoische Haltung des Subjekts bei George. Aus ihrer Beobachtung einer eigentümlichen »Statik« im Werke Georges entwickelte sie die Idee, sich eingehender mit der poetischen Darstellung der Zeit im Werk des Dichters zu befassen. Die Studie der Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Bologna erschien 2008 in Italien und nun ins Deutsche übertragen von Stephan Oswald.
In ihrer Untersuchung sieht sie Georges poetischen Umgang mit der Zeit in der Folge eines im 18. Jahrhundert sich verändernden Zeitverständnisses. Die Aufklärung zerschmetterte den bis dato – unreflektierten – Glauben an die Unendlichkeit. George wollte zurück und sah im Augenblick zwar auch die Säkularisierung des Unendlichen. Ähnlich wie Baudelaire war für ihn der Augenblick jedoch quasi ein Fenster in den ewigen Tunnel der Zeit. »Er fängt, gleichsam für die Länge eines Augenaufschlags, die Ewigkeit noch einmal ein. Mehr und mehr wird das Erlebnis des erfüllten Augenblicks eine sehr subjektive Erfahrung«, schreibt Margherita Versari. So erstrebte George in der Fülle von Augenblicken zu finden, was die Zeit als Ganzes ihm nicht mehr hätte liefern können: den Sinn. – Die Poesie befreit die Schönheit von ihrer Belagerung durch die Zeit, so der Tenor der Studie.
In fünf Kapiteln untersucht die italienische Literaturwissenschaftlerin »die Vorherrschaft des Raumes« bei George, Georges »Symbole gegen die Zeit« und das eigenwillige In-Anschlag-Bringen der Jahreszeiten in seiner Dichtung. Sie spricht die vielfältigen Facetten von Georges Zeit-Negation an: Auch die Liebe ermöglicht die Flucht.
Die Studie umfasst zwar nur gute einhundert Seiten, ist dennoch substanziell und tiefgreifend. Für George-Leser eine profunde Fundgrube weiterer Anregungen, deren Stärke vielleicht auch auf ihrem Abstand beruht; sie kommt eben nicht aus dem deutschsprachigen Raum.