Roberta Kremers lesenswertes Buch über die Zerstörung der jüdischen Modeindustrie in Deutschland und Österreich mit einer Titelvignette von Karl Lagerfeld
© Steidl Verlag/ Karl Lagerfeld 2013
Roberta S. Kremer (Hg.), Zerrissene Fäde. Die Zerstörung der jüdischen Modeindustrie in Deutschland und Österreich, 198 Seiten, gebunden in Leinen, mit einer Titelvignette von Karl Lagerfeld, Steidl Verlag, Göttingen 2013, 18 Euro.
Die Nationalsozialisten machten kurzen Prozess: Aus heutiger Perspektive ist erstaunlich und gespenstisch zugleich, in welch rasender Geschwindigkeit die Beamtenschaft, Institutionen, Hochschulen und andere wichtige Teile der Gesellschaft von jüdischen Mitgliedern getrennt wurden. Vor kurzem erst erregte eine Studie für Aufsehen, die belegte wie radikal das Auswärtige Amt Juden aus seinen Reihen entfernte. Dass diese so genannte ‚Arisierung‘ auch in der deutschen und österreichischen Bekleidungsindustrie stattfand, ist heute nicht allgemein bekannt.
Das Buch Zerrissene Fäden geht zurück auf ein Ausstellungsprojekt, das im Jahr 1999 in Vancouver stattfand. »Broken Threads: From Aryanization to Cultural Loss – The Destruction of the Jewish Fashion Industry in Germany and Austria« versuchte einen neuen Ansatz, um Menschen zu erreichen: Der ästhetischen und teils luxuriösen Mode aus jüdischen Händen wurden Bilder der barbarischen Verfolgung und Zerstörung gegenübergestellt. Photos der Haute Couture aus den 1920er Jahren gegenüber breitbeinigen SA-Männern vor geplünderten und demolierten Geschäften.
In der deutschen Mode-Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts trafen einige Faktoren zusammen, die sie für die Nazis mit ihren Minderwertigkeitskomplexen zum Dorn im Auge werden ließ: Jüdische Familien hatten sich über viele Generationen erhebliche Reputation erarbeitet. Die opulenten Kaufhäuser wie Tietz oder Wertheim zeugten von Stil und Geschmack. Die architektonischen Würfe von Erich Mendelsohn, der in den 1920er Jahren die großen Warenhäuser für die Schocken-Kette baute, sind noch heute Sinnbilder für eine gelungene Verbindung von Gewinnorientierung und Schönem. Als Vorwand der nationalsozialistischen Zerstörungen und Enteignungen diente das Bestreben, den kleinen Einzelhandel zu fördern und eine zunehmende Konzentration im Handel zu unterbinden.
Dabei war der Erfolg der jüdischen Kaufleute weder über Nacht entstanden noch zufällig. Beispielhaft ist der Werdegang der Berliner Familie Israel. Im Jahr 1741 erhielt Jacob Israel mit seiner Familie von Friedrich dem Großen das Recht verliehen, in Berlin zu leben. Ein Vierteljahrhundert lang verkaufte er in einer Art offenem Marktstand gebrauchte Kleidung. Irgendwann hatte er genug Geld zusammen, um ein Haus zu erwerben und sein Geschäft zu saturieren. 1815 konnte sich sein Enkel Nathan die liberalisierten Wirtschaftsgesetze zunutze machen und nun auch neue Kleidung und Stoffe offerieren. Zu Anfang der 1930er Jahre war Israel eines der größten Berliner Kaufhäuser mit Ladenverkauf und Versandhandel. Wie stark die Mode-Industrie jüdisch dominiert war, zeigen die folgenden Zahlen: 80 Prozent der Kaufhäuser und Filialbetriebe im Vorkriegs-Deutschland befanden sich in jüdischem Besitz, ebenso 40 Prozent der Großhandels-Textil-Unternehmen.
Von all dem ist heute nichts mehr übrig. Von dieser vernichteten Kultur ahnen die wenigsten überhaupt. Zuerst wurden die Besitzer enteignet, verfolgt und ermordet. Dann kamen die alliierten Bomber und zerstörten die Warenhäuser. Mit einem halben Dutzend Aufsätzen erinnert der Band an eine untergegangene Epoche. Mitten im Herzen von Europa. Eine Plünderung und Zerstörung von ungeheurem Ausmaß. Von Menschen Menschen angetan, weil sie Juden waren. Und die meisten schauten zu.
Ein Manko des bibliophil gestalteten Bandes ist das Lektorat: Die Übersetzung wirkt teils amerikanisch, Worte sind falsch und manches hätte für den deutschen Sprachraum angepasst werden müssen. Darüber hinweg trösten die vielen optischen Zugaben, die ein Bild vermitteln der Noblesse der Modewelt vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich.