Roberto Calasso – Der Traum Baudelaires

Notre Dame von der Ile Saint Louis aus gesehen: Diesen Weg ist Baudelaire oft gegangen

Roberto Calasso, Der Traum Baudelaires. Aus dem Italienischen von Reimar Klein. Carl Hanser Verlag München 2012, 496 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 34,90 Euro.

In der Nacht zum 13. März 1856 hat der französische Schriftsteller Charles Baudelaire einen vertrackten Traum: Er flaniert allein durch das nächtliche Paris, als er zufällig einen Freund trifft, der in seiner Kutsche sitzt. Das bietet ihm die Gelegenheit, diesen darum zu bitten, ihn zu einem Bordell zu bringen, wo er der Chefin ein Buch von sich, das soeben erschienen ist – ein »obszönes« Buch – zu überreichen.  Anschließend wird Baudelaire in seinem Traum durch die großen und verschlungenen Räumlichkeiten dieses Etablissements schreiten: An den Wänden hängen erotische Zeichnungen und dann  Miniaturen von bunten Vögeln … In einem der letzten Räume steht auf einem Sockel ein »Monstrum« das lebendig ist …

Roberto Calasso führt uns in seinem nun ins Deutsche übersetzten Buch Der Traum Baudelaires durch diesen Traum. Er führt uns durch diesen Traum, ohne ihn nach Freudscher Manier zu deuten, sprich zu vergewaltigen. Vielmehr gibt er dem Leser Hinweise, Verweise, Interpretationsangebote auf und für die so vielen Andeutungen Baudelaires. Denn dieser große Erneuerer der französischen – und nicht nur der – Literatur im 19. Jahrhundert war sowohl Meister wie auch Magier, wie wir von dem italienischen Schriftsteller erfahren. So schreiten wir durch die Chimäre des Museumsbordells von Baudelaires Traum und sind beinahe selbst traumähnlich in einer Art von poetischer Trance dem Text des Mailänders ausgeliefert. Er nimmt den Leser mit an die Hand und durch den Traum, die Räume und seine Auslegungen, sodass einem ob des Verstehens so manches Mal ein Staunen enträuspert.

Wie diesen Text charakterisieren? Seine ungeheure Stärke liegt gerade darin, keiner der üblichen Schubladen zu entsprechen. Wir haben es hier weder mit einer klassischen Biographie oder Werkbiographie zu tun. Es handelt sich auch nicht um eine literaturwissenschaftliche Abhandlung. Calasso spricht an einer Stelle von »einer intellektuell geschwächten Zeit wie der gegenwärtigen«. Kann man seine Distanz zum heutigen Wissenschaftsbetrieb deutlicher zum Ausdruck bringen? Mit fortschreitender Lektüre erhält der Leser selbst das Gefühl, in ein Zwischenreich eingetreten zu sein. Das Lesen selbst wird zum Traum. Zu einer anderen, höheren Existenzform. Lesen als geistige Meditation.

Was für den zentralen Traum im Werk Baudelaires gilt, ist emblematisch für Calassos ganzes Buch: Auf über 400 Seiten wird man mitgenommen auf eine lange und intensive Reise durch die Welt Baudelaires. Das betrifft die Lebenswelt des Dandys, die Wohnungen in Paris, seine Frauen, seine lebenslange finanzielle Abhängigkeit von der Mutter. Wir lernen diesen Ausnahmeschriftsteller kennen, – besser verstehen. Wir bekommen ein Gefühl dafür, wie die Mittelmäßigen, die zu jeder Zeit regieren, über die wenigen Genialen urteilen. In Baudelaires Fall ist dies Sainte-Beuve, der brutale aber einflussreiche Kritiker. – Baudelaire, der so stolze und gediegene Dandy, war sich nicht zu fein, dem zynischen Kritiker Pfefferkuchen nach Hause in die Rue Montparnasse zu schicken. Nebst einer Anleitung, wie der denn am besten zu genießen sei: mit Wein zum Nachtisch, den englischen jedoch auch mit Butter und Marmelade. Baudelaire, der damit um eine Rezension bettelte, fügte hinzu: »Ich hoffe, daß sie dieses Stück Pfefferkuchen mit Engelwurz nicht als den Scherz eines Flegels aufgefaßt und in aller Unbefangenheit verzehrt haben.«

 

Aus dem surrealen Nebel über der Seine, der die Person Charles Baudelaires umgibt, entsteht über die Seiten dieses hervorragenden Buches eine Silhouette; von Kapitel zu Kapitel können wir ihn besser verstehen, diesen Getriebenen, der sein Opium brauchte, um das Leben überhaupt ertragen zu können. Er tritt näher an uns heran, seine Konturen bekommen Form. Niemand habe sich Baudelaire vergleichen können, schreibt Calasso, »so vielfältig und eigentümlich waren seine Elemente, so sehr waren diese zentrifugalen Kräften ausgesetzt, die sich jedem Ausgleich zu widersetzen schienen«. Aber der italienische Biograph stellt zugleich fest: »Und doch beeindruckte bei dieser Figur ihre Einheit, dies so fest und tief gegründet war, daß man sie in jedem seiner Worte zu erkennen glaubte, als brauchte man sie nur gegen das Licht zu halten, um ein allgegenwärtiges Wasserzeichen darin zu entdecken.«

 

Roberto Calasso lässt uns teilhaben an seiner umfangreichen Belesenheit. So durchschreiten wir das geistige Haus Baudelaires mit seinen Anregern und seinen Interpreten. Seinen geistigen Weggefährten und persönlichen Feinden. Was für ein Buch!