Florian Günthers Bildband ist eine subtile Zeitreise in die jüngste deutsche Geschichte
Florian Günther, Reisen ohne Wegzumüssen. Fotografien 1984-1994. Edition Lükk Nösens, Berlin 2012, 304 Seiten mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen, französische Bindung, 29,80 Euro.
Florian Günthers Biographie ist so typisch – und gleichzeitig so untypisch für einen Künstler, dessen Heimat die DDR war. Typisch ist sie, weil er sich vom offiziellen Kulturbetrieb fernhielt. Untypisch ist sie, weil er es wirklich tat.
Auch von der Künstlerszene und Bohème vom Prenzlauer Berg hielt er sich fern. Früh schon begann er zu photographieren. Ihm sei es darum gegangen, sagt er in einem langen Interview in seinem gerade erschienen ersten Photoband , das was er gerade sehe, festzuhalten. Da ist Werner, ein Nachbar, dem er sonst nicht oft begegnet sei. Nun sitzt man zusammen in dessen Wohnung und trinkt. Werner holt ein Holzschwert hervor – und Florian Günther drückt ab. Schnappschuss. Da ist Krause, der Schäferhund. Er setzt gerade einen Haufen auf das Kopfsteinpflaster – wieder entsteht eines der typischen Photos in Schwarz-Weiß, die so unendlich viel aussagen über die Atmosphäre und Lebenssituation in der DDR. Florian Günther hat einen Blick für den Moment, der doch soweit über diesen Moment hinauszureichen scheint.
Das Erscheinen dieses gelungenen Photobuches ist einem Glücksumstand zu verdanken. In einer rauschhaften Verzweiflungstat schmiss der Photograph Anfang der 1980er Jahre sein gesamtes Archiv mit wohl Hunderten von Negativen in den Müll. Deshalb heißt das umfangreiche Buch aus der Edition Lükk Nösens nun Reisen ohne Wegzumüssen – Fotografien 1984-1994. Florian Günther ist bislang eher bekannt für seine Gedichte. Sieben Gedichtbände sind bisher erschienen, – der achte ist in Vorbereitung. Kennt man zuerst nur eines der künstlerischen Medien des 1960 Geborenen, so stellt man fest, dass sich die Gedichte und die Photos in subtiler Weise ergänzen: Was Günther in so kurze und treffende Sprache fast, hat er auch in seinen Schwarz-Weiß-Photos festgehalten. Es sind Momentaufnahmen eines Lebens namens Wahnsinn, in dem jeden Tag aufs Neue Verrücktes, Komisches, Skurriles auf den Berliner einströmen.
Florian Günther, Die Party ist vorbei, Berlin 1986
© Florian Günther
Seine Photos sprechen von seiner Lebenserfahrung. Er war in seinem Berufsleben immerhin schon Eisenflechter, Buchverkäufer, Graphiker und manch anderes. Doch was sagen diese Bezeichnungen aus? Dabei lehnt er den Begriff ‚Lebenskünstler‘ für sich ab. »Aber sicher gehört auch ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit dazu, ein so verpfuschtes Leben wie meins zu führen«, sagt er im gleichsam niveauvollen wie unterhaltsamen Gespräch mit Marvin Chlada. Das Buch reproduziert viele der eindringlichen Aufnahmen doppelseitig, was dem Betrachter das Verschwinden in ihnen erleichtert. Viele andere Bilder sind mit dem Löcherrand des Filmstreifens abgedruckt, was ihren dokumentarischen Eindruck noch verstärkt.
Florian Günther, Blumen, Berlin 1984
© Florian Günther
Florian Günther, Werner mit Holzschwert, Berlin 1984
© Florian Günther
Das Interview begleitet die Photographien und zieht sich über die 300 Seiten des beeindruckenden Photobandes. Wie kaum ein anderes Buch vermag es einen Eindruck zu vermitteln, wie das Leben in Ost-Berlin war. In einem Staat und Gesellschaftssystem, das untergegangen ist. Wie es scheint vor Ewigkeiten. Dabei ist das Ende der DDR gerade einmal zwei Jahrzehnte her.
Dringend zu empfehlen ist das Buch als Pflichtlektüre für den Kunstunterricht in den östlichen Bezirken Berlins – aber nicht nur hier. Im Prenzlauer Berg hat seit der Vereinigung ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch stattgefunden. – Gern würden wir die Gesichter der dortigen Schüler nach der Lektüre und Betrachtung des Buches sehen.
Hier kann man das Buch bestellen:
Photo Edition Berlin