Ein Buch zum Innehalten: Roger Willemsen setzt ein Leben aus Momenten zusammen, die bleiben
DANDY-CLUB Geschenkempfehlung No. 1:
Roger Willemsen, Momentum. S. Fischer Verlag 2012, 319 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 21,99 Euro.
Was bleibt? Was bleibt von uns, wenn wir gehen? In uns und in der Welt.
Erwachen im Werden. Während die Wimpern den ersten Lidschlag tun, die Trägheit des Auges kein Bild, ein Muster bloß produziert, während das alte ‚Es träumte mir‘ in ein ‚Ich träumte‘ und das ‚Es denkt mich‘ in ein ‚Ich denke‘ übergeht, entsteht mit dem beginnenden Tag die erste Frage: Wo stieß mir dies Ich zu, das gerade denkt, als habe es nie gedacht? Was wollte das Bewusstsein, als es wurde?
Roger Willemsen schrieb ein Buch über die bedeutenden Momente im Leben (Roger Willemsen, Momentum, S. Fischer Verlag, 2012). Der Mensch hat die Eigenschaft, das wirklich Wichtige erst zu erkennen, wenn es zu spät ist. Ist ein naher Angehöriger oder enger Freund gestorben, fangen wir an zu bereuen: Warum habe ich ihm nie verziehen? Warum haben wir uns nicht ausgesprochen? Manchmal scheint es, als würde eine Liebe noch intensiver, wenn sie unwiederbringlich zerstört ist.
Roger Willemsen knüpft all diese Momente in seinem bisherigen Leben zu einer erinnernden Perlenschnur zusammen. Manch eine Situation geht da nur über eine halbe Seite. Anderes kehrt immer wieder. Will nicht so schnell vorüberziehen. Es sind besondere Augenblicke im Leben von Roger Willemsen. Augenblicke, die nie wiederkehren werden, weil sie Einmaliges in sich tragen.
Als ich zum ersten Mal in voller Vergegenwärtigung vor dem Meer stand, ertrank ich im Augenschein. Was wird aus den Dingen, die sich im Spiegel des Meeres reflektieren? Sind sie nicht alle noch da, die gesunkenen Schiffe, die Silhouetten der Frachter, die Flaschen sogar, die auf den Wellen tanzten? Ist das Schillern der Wellen also eigentlich der Tanz der winzigen, in ihnen gespiegelten Bilder? Nie wieder war die Brandung wie damals, als sie in jeder Welle eine Bilderflut war.
Wir alle haben Ähnliches erlebt: Zum erstenmal am Meer, die ersten bewussten Wahrnehmungen als Baby. Roger Willemsen kann diese Momente in Worte fassen. Er kann den tief im Gedächtnis abgespeicherten Erfahrungen und Gefühlen Worte verleihen. So setzt er in seinem neuesten Buch ein Leben ganz aus Momenten zusammen. Mancher Moment ist einfach nur stille Beobachtung. Zwei unterhalten sich. Reden aneinander vorbei. Führen wie so häufig einen Doppel-Monolog, den sie für ein Gespräch halten. Der Autor ist dabei, ist zwangsweiser Zeuge und hält ihn fest. Andere Momente sind von dramatischer Intensität. Verdichtet. Sie scheinen über das weitere Schicksal entscheiden zu wollen. Eine Qualität dieses besonderen Buches ist dabei das Nebeneinander von Augenblicken von ungeheurer Komik mit solchen stiller Naturbeobachtung und Kunstbetrachtung. Frühe Kindheitserinnerungen finden sich neben offenen Liebes-Schilderungen. Und hinzu kommt, dass sich besonderen Menschen, wie der Autor einer ist, andere ungefragt in intimster Weise öffnen:
Eine Stewardess gesteht mir in 11000 Meter Höhe verschwörerisch, auf Langstreckenflügen höre sie Stimmen in den Wolken.
‚Es sind die Toten, die da reden‘, sagt sie, ‚aber sie tun es nur über Meeren und Wüsten‘.
Vielleicht sind es diese Momente, die Roger Willemsen in seinem Buch aufsammelt, aufpickt, denen er Gehör verschafft, die bleiben. Die wir im letzten Film vom Leben präsentiert bekommen, wenn wir gehen. Ein grandioses Buch, ein Geschenk!
Matthias Pierre Lubinsky