Das Licht des Südwestens – an einem Sonntag-Nachmittag in Brandenburg
© DANDY-CLUB 2010
Heute, 17. Juli, ist strahlend schönes Wetter. Ich sitze auf der Bank, zwinkere mit den Augen, aus Spaß, wie inder es tun, und sehe – wobei sämtliche Proportionen durcheinander geraten -, wie sich eine Margerite aus dem Garten flach auf die gegenüberliegende Wiese legt, auf die andere Seite der Straße.
Diese Straße bewegt sich wie ein ruhiger Fluß. Hin und wieder von einem Moped oder Traktor befahren (das sind heutzutage die echten Geräusche auf dem Lande, letztlich nicht weniger poetisch als Vogelgesang: Da sie selten sind, betonen sie die Stille der Natur und verleihen ihr das unaufdringliche Gepräge menschlichen Tuns), wird die Straße dann zur Lebensader für einen ganzen, entlegenen Teil des Dorfes. Denn dieses Dorf hat ungeachtet seiner bescheidenen Größe »Außenbezirke«. Ist das französische Dorf nicht stets ein widersprüchlicher Raum? Obschon eng begrenzt und auf einen Mittelpunkt bezogen, reicht es dennoch weit; das meine, klassische, hat nur einen Platz, eine Kirche, eine Bäckerei, eine Apotheke und zwei Lebensmittelläden (zwei Self-Services solte ich heute wohl eher sagen); aberes hat auch aus einer Art Laune, welche die offensichtlichen Gesetze der Kulturgeographie unterläuft, , zwei Friseure und zwei Ärzte. Frankreich – Land des rechten Maßes? Sagen wie lieber – und das auf allen Stufen des öffentlichen Lebens – Land der komplexen Proportionen.
Dies ist der Beginn von Roland Barthes – Das Licht des Südwestens, in Sinn und Form, drittes Heft 1996, S. 401-405. Aus dem Französischen von Helga Robenstein.