Walther Rathenau in memoriam

Walther Rathenau (1867-1922)

 

 

 

Heute vor 90 Jahren wurde der AEG-Chef, Politiker, Schriftsteller und Dandy Walter Rathenau ermordet. Der DANDY-CLUB würdigt den Mann, der seiner Zeit voraus war.

Der 1867 geborene Rathenau entstammte einer Bankiers- und Industriellenfamilie.  1899 vom Vater ins Direktorium der AEG berufen, wurde der 32jährige zum Initiator einer neuen Phase der Industrialisierung in Deutschland, indem er Banken und Wirtschaft wesentlich enger miteinander verknüpfte. 1914 wurde Rathenau die Rohstoffversorgung für den Krieg überantwortet. Die damals wichtigste Schlüsselposition traute man einem Macher zu, der seine strategischen Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hatte. Innerhalb kürzester Zeit schuf er als Minister eine Behörde, die die gesamte deutsche Industrie der Kriegswirtschaft unterwarf.

Heute kaum noch bekannt ist, daß Rathenau einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit war. Über viele Jahre stehen bei seinen Veröffentlichungen nicht etwa technische oder naturwissenschaftliche Themen im Mittelpunkt. Vielmehr galt Rathenaus Hauptaugenmerk kultur- und sozialphilosophischen Fragen. Er beschäftigte sich außerdem intensiv mit Literatur und Kunsttheorie. Rückblickend schrieb er selbst über den von ihm eingeschlagenen Weg: „Berufswahl: Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlage neuzeitlicher Technik und Wissenschaft.“ Bereits als junger Student hatte er ein Drama verfasst. Kurz vor seinem Einstieg in die Politik verriet er einem Freund: „Ich kaufe mir eine Klitsche und treibe Philosophie. Mein Plan steht ganz fest. Ich habe das fest beschlossen. Vielleicht in Mecklenburg.“ Letztlich durchringen konnte er sich dazu nicht. Seit dem Krieg veröffentlichte Rathenau eine Reihe von Schriften über seine Vorstellungen eines künftigen Wirtschaftssystems für Deutschland. In den Büchern Von kommenden Dingen (1915) und Die neue Wirtschaft (1917) versuchte der Grundlagendenker einen dritten Weg zu finden zwischen zügellosem Kapitalismus und gleichmachendem Sozialismus. Er hielt die Kritik der Arbeiterschaft an dem damaligen Wirtschafts- und Sozialsystem für gerechtfertigt. So galt Rathenau in der Weimarer Republik als Antipode zu Stinnes, dem ein Wirtschaftssystem nach US-amerikanischem Vorbild vorschwebte.

Und Rathenau blieb bei seiner Wahrnehmung nicht auf ökonomischer Ebene stehen. Er spürte die seelische Verarmung, die daraus entstand, daß die Masse in die Großstädte getrieben wurde. Weit über das Ökonomische hinaus war Rathenaus Bestreben eine ganzheitliche Wirklichkeitssicht, in der Intuition, Individualität und Seele im Zentrum standen. Der Zeitkritiker sah „die tiefste Sehnsucht unserer Zeit, die ihren Sinn sucht. Unbewußt fühlt sie sich angewidert vom Denken, vom mechanistischen Denken; sie hat alles schon einmal gehabt und durchgrübelt, jedes Gefühl sondiert und abgeleitet. Sie weiß, wie alle diese Rätsellösungen schmecken und wie lange sie vorhalten. Sie sehnt sich nach einem jenseits des Beweisbaren stehenden Sinn, und schrickt davor zurück, weil er ihr willkürlich scheint; und er ist willkürlich, weil er nicht in ihrer Seele liegt.“[i] Rathenau resümiert, die Zeit werde ihre Seele finden, „freilich gegen den Willen der Mechanisierung“. Der philosophierende frühere Wirtschaftslenker und jetzige Staatsmann war guter Hoffnung, daß die Menschen „unter dem Druck und Drang der Mechanisierung, der Unfreiheit, des fruchtlosen Kampfes, die Hemmnisse zur Seite schleudern“ werden.

Ein Dreivierteljahr vor seinem Tod sagte er in einer Rede prophetisch voraus: „Die Wirtschaft ist das Schicksal. Schon in wenigen Jahren wird die Welt erkennen, daß die Politik nicht das Letzte entscheidet.“ Rathenau war erst mit vierzig Jahren in die Politik eingestiegen, für die Nationalliberalen. Auch hier war er kein Opportunist, der vorrangig an seine Karriere dachte. Nachdem er 1907 und 1908 an zwei ausgiebigen Reisen in die deutschen Kolonien in Afrika teilgenommen hatte, sparte er in seinem Berichten nicht an Kritik. Nach verschiedenen Stationen wurde Rathenau zuerst Wiederaufbauminister und 1922 Außenminister.

Der Wirtschaftslenker und Staatsmann war gleichzeitig ein brillanter Redner und ein unaufdringlicher Gesellschafter. Damit war es ihm schnell gelungen, in der kaiserlichen Hofgesellschaft Berlins zu reüssieren. Er selbst fühlte sich vor allem in den literarisch-künstlerischen Kreisen zu Haus. Hier freundete er sich an mit Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Max Reinhard und anderen. Freilich wurde ihm der Zugang zu diesen Zirkeln durch seinen berühmten Großonkel, Max Liebermann, erleichtert. Rathenaus Villa im Berliner Grunewald entstand nach eigenen architektonischen Entwürfen. Hier empfing er seinen Freund Gerhard Hauptmann und wohnte in der Nachbarschaft von einer Reihe deutsch-jüdischer Intellektueller und Künstler. Zu ihnen gehörten nicht nur die Gebrüder Fischer, die Begründer des gleichnamigen Verlags. Viele von ihnen emigrierten in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Mit dem Jahr 1933 wurde diese wesentliche Säule der deutschen Kulturgeschichte abrupt weggerissen. Rathenau sammelte Bilder und ließ sich mehrmals von dem damals noch nicht bekannten Norweger Edvard Munch porträtieren. Neben seinen bereits erwähnten politischen und sozialen Studien und Polemiken schrieb er geschichtsphilosophische Deutungsversuche, moralgeschichtliche und Erwägungen und solche zur Ästhetik. So repräsentierte Rathenau eine deutsche Führungselite, die es heute nicht mehr gibt.

Am 24. Juni 1922 wurde Rathenau in Berlin-Wilmersdorf von der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ auf der Straße ermordet.