Franz Hessel (1880-1941)
© Sammlung Flügge
Zum heutigen Geburtstag des großartigen Flaneurs und Schriftstellers Franz Hessel (21. November 1880 – 6. Januar 1941) erinnert der DANDY-CLUB an den Freund von Walter Benjamin mit der Rezension von Hessels Roman-Wiederentdeckung Heimliches Berlin.
Franz Hessel: Heimliches Berlin, Roman. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. 160 Seiten, gebunden in Halbleinen, Lesebändchen, 19,40 Euro.
1955 ist der damals 23jährige, angehende Filmemacher François Truffaut bei einem Bouquinisten am Palais Royal. Er entdeckt ein Exemplar des Romans Jules et Jim von Henri-Pierre Roché, der zwei Jahre zuvor bei Gallimard erschienen war. Der Roman hatte das Publikum überfordert: Nicht nur handelte er von einer Dreiecksbeziehung, sondern auch noch von einer deutsch-französischen. Dafür war die Zeit so wenige Jahre nach dem Krieg noch nicht reif.
Truffaut dagegen war von dem Buch begeistert. Er kauft es sofort und besucht den Autoren, um mit ihm über eine Verfilmung zu sprechen. Erst 1959 jedoch hatte er das Filmprojekt finanziell gesichert. Eine Hauptdarstellerin zu finden, war für ihn leichter: Jeanne Moreau. Roché sieht ihre Photos und ist sofort begeistert: Sie ähnele der Protagonisten Kathe sehr. Im April 1959 – vier Tage vor dem vereinbarten Treffen mit der Schauspielerin – stirbt Roché.
Der Film wurde ein großer Erfolg und zog auch die Romanvorlage wieder ans Tageslicht, die nun neue Auflagen erlebte. Franz Hessels Roman Heimliches Berlin behandelt denselben Stoff, ebendiese Dreiecksbeziehung, ist jedoch kaum allgemein bekannt. Dabei hat die Erzählung das Gegenteil verdient. Aber was heißt eigentlich Erzählung. Der Text besteht aus 13 einzelnen Szenen, die kunstvoll verwoben werden. Dem Leser wird auf höherer Ebene bewusst, dass die eine Handlung weitergeht. Hessel legt seinen Figuren die Worte in den Mund; sprachgewandt, tiefgründig, manchmal skurril. Die wabernde Metropole Berlin der 1920er Jahre ist zugleich Bühne wie Hintergrund, der als Bühnenbild quasi un-anwesend ist. Die Handlung ist eine surrealistische; sie schreitet wie in Schwarz-Weiß-Bildern durch eine dunkle Regennacht.
Dem Leser fällt nicht auf, dass es nur »die Geschichte eines Abends, einer Nacht, eines Tages und wieder eines Abends« ist, wie Manfred Flügge in seinem wunderbaren Nachwort schreibt. Dies so genannte Nachwort ist ein eigenes Essay, ein Text von eigenem literarischem Rang, der Hessels Erzählung trüffelt.
Die Sprache Hessels ist das wohl Herausragendste an der Geschichte. Man kann manche Sätze mehrmals lesen, um das Raffinement ihrer Dramaturgie zu erfassen. Manfred Flügge nennt sie »genau und schwebend zugleich«. Zu Anfang beschreibt Franz Hessel seinen Protagonisten Wendelin mit bildmächtigen Worten:
»Er trank nur wenig, sah aber schon nach dem ersten Glase Menschen und Dinge in der flächigen Ferne, die ein glücklicher Rausch ihnen gibt, fühlte sich allen, die ihn ansahen, ansprachen, anfaßten, wunderbar und gleichmäßig hingegeben, sprach selbst leise und wenig und erwiderte die Berührungen der anderen kaum. So verging ihm der Abend in schöner Undeutlichkeit, und was mit ihm geschehen, erlebte er eigentlich erst, als er am nächsten Morgen erwachte.«
Heimliches Berlin ist ein paradoxer Roman. Ein Zeit-Roman, in dem die Zeit präsent ist als Gegenwärtigkeit des ungeheuren Augenblicks. Und zugleich völlig zu verschwinden scheint hinter der Kulisse des einnehmenden Geschehens.
Als literarische Wieder-Entdeckung ein Diamant!