Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huinzinga (1872-1945)
Johan Huinzinga, Amerika. Wilhelm Fink Verlag, München 2011, 380 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 49,90 Euro.
Als der niederländische Kulturhistoriker Johan Huinzinga im Frühjahr 1926 für drei Monate die USA bereiste, war er in seiner Heimat bereits ein anerkannter Wissenschaftler. Dabei war sein Weg in die wissenschaftliche Karriere nicht gerade leicht. Zu sehr widersprach er dem üblichen – und vom Betrieb erwarteten – Vorgehen und methodischen Ansätzen. Ein wenig vergleichbar mit der Unkonventionalität des französischen Querdenkers Roland Barthes oder dem österreichischen Architekten Adolf Loos, war Huizingas Geschichtsverständnis eher eine intuitive Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Diese Herangehensweise mag noch verstärkt worden sein durch sein Studium der Sprachwissenschaften. Zu sehr war der 1872 in Groningen Geborene an Kunst und Malerei interessiert, als dass er ganze Lebensbereiche aus der Geschichtsforschung hätte ausblenden wollen.
Huinzinga nutzte seine begrenzte Zeit in Amerika zu intensiven Studien. Insbesondere interessierte ihn der kulturelle Gegensatz zu Europa. Die Rationalisierung der Kultur, der allgemeine Utilitarismus, den er vor allem an den Universitäten beobachtete.
»Der Fortschritt der Technik zwingt den ökonomischen Prozess, seine Richtung auf Konzentration und allgemeine Gleichmachung in immer schnellerem Tempo zu durchlaufen. Je mehr menschliche Geschäftsklugheit und exakte Wissenschaft in der Automation der Betriebe festgelegt wird, desto mehr scheint der handelnde Mensch als deren Träger und Beherrscher zu verschwinden.«
In seinen brillanten Essays, deren erste unter dem Dach-Titel »Mensch und Masse in Amerika« erschienen und nun zum ersten Mal in Deutsch veröffentlicht werden, geht der überzeugte Kultur-Europäer ausführlich auf die Geschichte der USA ein. Er transzendiert quasi die essenziellen Begriffe wie Individualität durch eine Ableitung aus ihrer historischen Bedingtheit und verdeutlicht zugleich, dass diese für das Verständnis der Vereinigten Staaten so zentralen Begriffe dort meist eine andere Bedeutung haben.
Huinzinga abstrahiert und schildert das Substanzielle der amerikanischen Kultur, der Gesellschaft und der Menschen aus der fortschritts-skeptischen Sicht eines Kultur-Europäers, – ohne in ablehnende Klischees zu verfallen. Selbst wenn der Analyst zu einem vernichtenden Urteil gelangt, spricht er dies nonchalant und ohne Hass aus. So beispielsweise über das politische System der USA:
»So ging der Parteiengegensatz schließlich in der faktischen Kommerzialisierung der Parteien verloren. Die Großunternehmen haben das politische Leben geschluckt. Eine Streitfrage wie die Protektion, die in Amerika übrigens nie nur einen rein prinzipiellen Charakter hatte, löste sich im Gewirr der mit den unterschiedlichen Industrieartikeln verquickten Sonderinteressen in Luft auf. Jede Industrie, jedes ‚special interest‘, wie der Amerikaner sie so unmissverständlich nennt, ist eine Macht, die sich in der Politik selbständig verwirklicht.«
Trotz anfänglicher Skepsis begegnet der niederländische Gast der Neuen Welt voller Respekt und Neugier. Und er warnt seine Leser in der Heimat sogar vor voreiligen Urteilen. Akribisch beschreibt der Professor die Mentalitätsunterschiede.
»Die Amerikaner glauben wie alle großen Völker an eine Mission. Seit der Geburt ihres Staates lebt die Idee, dass sie zum Demokratiemodell für die Welt berufen sind, weise, mächtig und prosperierend. Auf der politischen Plattform und von der Kanzel herab wird diese Vorstellung immer wieder mit sichtbarer Aufrichtigkeit proklamiert.«
Die brillanten Essays Johan Huinzingas über die USA sind eher intellektuell-analytische Flanierstücke, vergleichbar mit den Texten von Walter Benjamin oder den Minima Moralia von Theodor W. Adorno. Ergänzt wird diese überfällige deutsche Erstveröffentlichung durch das zweite Buch – ebenfalls erstmalig auf Deutsch – »Amerika – Leben und Denken«. Huizingas Beobachtungen sind punktuell genau und lassen so Abstrahierungen zu. Diese vollzieht der Autor in einer Weise, die für den Leser absolut nachvollziehbar wird und ihm dabei einen eigenen Beurteilungsspielraum belässt. Ergänzt wird der bedeutende Band durch Huinzingas Tagebuch-Aufzeichnungen der Zeit der Reise. Sie zeugen nicht nur von dem strammen Programm, das sich der Reisende selbst auferlegt, sondern auch von seinen Gedanken, Reflexionen und Verarbeitungen. So schreibt Huinzinga am 4. Mai 1926:
»Ich muss mein Urteil jeden Tag berichtigen.«
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