Die Siesta – Thierry Paquot

Delphin Enjolras, La sieste

 

Thierry Paquot, Die Kunst des Mittagsschlafs.
L.S.D. Verlag im Steidl Verlag, Göttingen 2011, 92 Seiten, Leineneinband, mit Lesebändchen
, 16 Euro.


»Die größten Ideen kommen auf Taubenfüßen daher«, schrieb Friedrich Nietzsche einmal. Die größten Neuerscheinungen der diesjährigen Frankfurter Buchmesse 2011, ist man geneigt, dieses philosophische Aperçu abzuwandeln,  kommen so nonchalant daher, dass ihre ungeheure Qualität auf den ersten Blick verborgen bleibt.

 

Thierry Paquot stellt in seiner kleinen Schrift L’Art de la sieste, die zum ersten Mal in Deutsch erscheint, die alte Sitte des Mittagsschlafs dem modernen Funktionszwang entgegen.

 

»Der Mittagsschlaf ist ein entscheidender Moment, um sich zu sammeln, nachzudenken, zu träumen, zu genießen – oder zu schlafen. Heilsamer Mittagsschlaf. Eine Ruhepause, die Entspannung bringt. Man hat sie oft mit klimatischen Gründen gerechtfertigt: Die Mittagshitze zwinge zur Passivität, treibe die Männer ins Café, um Domino zu spielen, einen Tee zu schlürfen und eine Wasserpfeife zu rauchen (…) Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine beinahe universelle Lebensart, die allen Gesellschaften gemeinsam ist, in denen die kapitalistische Ökonomie mit ihrer Rationalität (‚Time is Money!‘) noch nicht in jeden Winkel des Alltags vorgedrungen ist (…)«


Thierry Paquots kleiner Traktat ist von ungeheurer Sprengkraft. Zeigt er doch subversiv auf, wie der Mensch in der Moderne immer weiter versklavt wird und davon nichts mitbekommt. Oder mitbekommen  will. Der französische Philosoph legt dar, welches die wesentlichen Stationen waren, um für technischen Fortschritt und permanente Produktionssteigerungen dem Menschen seine Individualität zu rauben. Er zitiert den US-amerikanischen Historiker Lewis Mumford, nach dessen Auffassung die wichtigste Erfindung für den Beginn des technischen Zeitalters nicht die Dampfmaschine – sondern die Uhr gewesen sei. In den christlichen Städten habe sich im 13. und 14. Jahrhundert die mechanische Uhr durchgesetzt mit einer Glocke, die die volle Stunde schlug. Sie habe diszipliniert und zunehmend den menschlichen Tagesablauf bestimmt.

 

»Um das Jahr 1345 setzte sich in den herrschenden städtischen Klassen die Unterteilung einer Stunde in sechzig Minuten und einer Minute in sechzig Sekunden durch und löste damit die individuelle Zeit jedes Einzelnen ab. Diese war durch den Herzschlag, das Atmen, die Handlungen und so weiter bestimmt gewesen und wurde nun durch eine homogene und abstrakte Zeit ersetzt, die für alle gelten sollte.«


Paquot, Herausgeber der Zeitschrift Urbanisme, weiß, welche Folgen diese Disziplinierung hatte: Das Unvorhergesehene, das Überraschende wurde abgeschafft – wegrationalisiert.

 

Thierry Paquot ruft auf zur allgemeinen Siesta als einer Form eines Generalstreikes gegen eine so genannte Globalisierung, die jetzt den letzten – noch intakten -Winkel der Erde beherrschen will. Die Siesta erscheine bar dem von Zwängen beherrschten Alltagsdasein wie eine freie Zeit, eine Zeit, die tatsächlich nur einem selbst, dem Schläfer gehöre.

 

Paquot steht als Hochschullehrer selbst im beruflichen Stressalltag, weiß also wovon er spricht. Daher fordert er dezidiert dazu auf, jeder Einzelne solle sich nun der political correctness widersetzen und sich sein Recht auf seine mittägliche Ruhe nicht nehmen lassen.

 

»Jeder Mensch benötigt eine individuelle Menge an Schlaf, es ist jedem selbst überlassen, seine ideale Dauer nächtlicher Ruhe zu bestimmen, zu der am Tage als Nachschlag, als Schlemmerei der Mittagsschlaf hinzuzufügen ist.«


Ein Buch, wie es zur Zeit wohl nur in Frankreich entstehen konnte. Eine kleine Kulturgeschichte der Selbstbesinnung, der Ruhe und zugleich ein Denkanstoß für ein selbstbestimmtes Dasein. Die deutsche Erstausgabe ergänzte der Autor durch ein süffisantes Nachwort, in dem er die kurze Geschichte der Schrift schildert.

 

Furios!