Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937, neunter Band 1926-1937.
Hrsg. von Sabine Gruner und Ulrich Ott. Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft. Cotta Verlag 2010, 1051 Seiten, Leinen mit eingelassenem Frontispitz, Lesebändchen, 63 Euro.
Was haben Harry Graf Kessler und Oscar Wilde gemeinsam?
Beide großen Dandys starben am 30. November. Der deutsche Weltbürger Kessler 1937 und der irische Schriftsteller im Jahr 1900. Beide starben in Frankreich, der Wiege europäischer Kultur. Und beide liegen auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.
Obwohl Kessler ein großzügiger Mäzen war, kamen die meisten der von ihm Geförderten Künstler zu seiner Beerdigung nicht. Immerhin sorgen heute die weltberühmten Tagebücher von André Gide und Julien Green dafür, dass die Beerdigung des umtriebigen deutschen Comte nicht in Vergessenheit gerät. Unter dem Datum des 8. Dezember 1937 schreibt Green: »Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, daß eine tiefe, herzzerreißende Traurigkeit die Kapelle durchlief, als ob Keßler, aufstehend, sich an uns festgehalten hätte, gleich einem Mann, der ertrinkt und sich an einem Boot voller Leute festklammert. Gide hielt während der Gebete den Kopf geneigt und bewegte sich nicht. Als man den Sarg forttrug, entstand eine Art allgemeiner tiefer Trauer, anders kann ich es nicht ausdrücken; man entriß den armen Keßler seinen Freunden.«
Dieses Gefühl mag für das Umfeld Kesslers tatsächlich das bestimmende gewesen sein. Denn der 1868 in Paris Geborene war für seine Freunde und Bekannten ein nachdenklicher, engagierter und für seine Sache stets streitbarer Mann. So eine Figur ist heute schwerlich vorstellbar. Der nun erschienene neunte und letzte Band des atemberaubenden Tagebuchwerkes, das Kessler über 57 Jahre führte, macht dies besonders deutlich. In ihm, der das letzte Lebensjahrzehnt 1926 bis 1937 beinhaltet, sind Kesslers Melancholie und das Immer-Wieder-Aufstehen nach diversem Scheitern konzentrierter als in den vorhergehenden Bänden. Kessler, der sein Leben lang versuchte, seine Kontakte in die Waagschale für einen europäischen Frieden zu werfen, verlor in diesem letzten Lebensabschnitt wichtige und bedeutende Weggefährten. Auf der politischen Seite war dies Walther Rathenau, der 1922 ermordet wurde. 1929 starb Gustav Stresemann, der versuchte, mit friedlichen Mitteln den Deutschland knebelnden Versailler Vertrag zu revidieren.
Dieses Leben mit den großen Höhen und Tiefen scheint sich in seinem letzten Jahrzehnt zugespitzt zu haben. Kessler war nonchalant genug, die Leser seines Tagebuchs nicht mit seinen Krankheiten zu belästigen. Sie finden so gut wie gar nicht statt. Rekonstruierbar sind die weißen Flecke im Diarium heute vor allem durch die parallel geführten ausgiebigen Briefwechsel. Der Tagebuchschreiber sieht sich dagegen als Chronist. Kessler versucht, die Ereignisse festzuhalten. Ihre Bedingungen, Auswirkungen und Protagonisten. Eigene Meinungen oder Beurteilungen fließen wenn überhaupt eher indirekt ein. Das sind die Momente, wo sich der europäische Bildungsadlige einer kleinen zynischen Spitze nicht enthalten kann. Diese wirken beim heutigen Lesen keinesfalls antiquiert oder unpassend.
»Um 2 Uhr kam Max zum Frühstück«, notiert Kessler am 30. Januar 1933, »der die Nachricht von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mitbrachte. Die Verblüffung war gross; ich hatte diese Lösung und noch dazu so schnell nicht erwartet (…) Unten, bei unserem Nazi Portier, brach sofort ein Überschwang an Festesstimmung aus (…)« Kessler schildert dann, wie Berlin erfüllt ist, von patrouillierender SA, SS und Braunhemden. Die Deutschen sind neugierig – und feige: »Der ganze Platz gestopft voll von Gaffern.« In ironisch-dandyesker Wortwahl spricht der Diarist von »Karnevallsstimmung«. Für den feinsinnigen Kessler bekam dieser Tag seinen adäquaten Ausgang, indem sich zwei junge Nutten im Bierhaus an ihren Tisch setzten und sich von seinem Bekannten aushalten ließen: »Es war ein würdiger und in die allgemeine Stimmung hineinpassender Abschluss dieses ‚historischen‘ Tages«, kommentiert Kessler süffisant.
Die Cranach-Presse war eines der ambitioniertesten künstlerischen Projekte Kesslers. Sein Plan war die Herausgabe eines bedeutenden Teiles der Weltliteratur in dem Inhalt angemessener, will sagen würdiger Gestaltung. Gemessen an den großen Plänen haben nur wenige Bände das Licht der Welt erblickt. Anders gesehen: Wäre Kesslers großer politischer Traum einer diplomatischen Karriere wahr geworden, so gäbe es möglicherweise noch nicht einmal diese wenigen bibliophilen Bände. Berührend zu lesen ist in diesem letzten Tagebuchband, wie Kessler, von schwerer Krankheit gezeichnet, mit seinem Bankier nach Zürich reist, um Mittel für das Weiterbestehen dieses anspruchsvollen Verlages zu organisieren. In den 1930er Jahren gingen Kunstwerke Kesslers in Pfandbesitz oder Eigentum der Gläubigerbanken über, weil es ihm nicht gelang, Finanziers zu finden.
Betrachtet man heute die bibliophilen Bücher der Cranach-Presse, so kann man deren kulturellen Wert gar nicht hoch genug einschätzen. Geschaffen in einer außergewöhnlichen historischen Zeitspanne zwischen zwei Weltkriegen, als Europa Luft holte und künstlerisch und ästhetisch zu Höchstem in der Lage war. Der Anspruch Kesslers und Henry van de Veldes war ein umfassender. Nicht nur Bücher sollten die Verheißung einer Moderne sein, die das Beste der europäischen Kulturen im Geiste Nietzsches ausgestalteten. Klassische Ausgewogenheit und die untergründige Verbundenheit der europäischen Kulturnationen waren das geistige Fundament des bedeutenden Europäers Harry Graf Kessler.
Dieses nun bis auf einen Band abgeschlossene Tagebuchwerk ist bedeutendes Erbe, wie Karl Schlögel so schön sagte: das Jahrhundertprotokoll.
Die Publikation des Klett-Cotta Verlags:
http://www.klett-cotta.de/kessler_tagebuch.html