Der »Merkur«, Deutschlands publizistisches Flaggschiff eines liberal-freiheitlichen Denkens, rückte bereits mit den vergangenen Doppelnummern mit dem jeweiligen Thema dem Zeitgeschehen nahe auf die Pelle. Die Schwerpunktausgabe des Jahres 2009 eilt dem weltlichen Geschehen nun sogar voraus. »Heldengedenken. Über das heroische Phantasma« lautet ihr Titel.
Der »Merkur« 724/725 erschien im selben Monat, als im Münchner Stadtteil Solln ein 17- und ein 18jähriger einen Geschäftsmann zu Tode prügelten und trampelten, weil der vier Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren bei dem Erpressungsversuch zu Hilfe gekommen war. Sogleich machten die Talkshows diese brutale und grenzenlose Gewalt zum Thema und forderten unisono, mehr Mut und Zivilcourage von den Bürgern.
Dass die moderne Massengesellschaft hier mit gespaltener Zunge spricht, macht der »Zeit«-Redakteur Jörg Lau in seinem erstaunlichen Beitrag deutlich. Erstaunlich deshalb, weil der Journalist für Außenpolitik im Hauptstadtbüro dem Feuilleton-Chef seiner eigenen Zeitung, Jens Jessen, heftigst die Leviten liest. Jessen hatte in einem Kommentar zu einem ähnlichen Fall im vergangenen Jahr in der Münchner U-Bahn Verständnis für die Täter gezeigt. Ein Rentner hatte zwei jugendliche Türken darum gebeten, ihm den Zigarettenrauch nicht weiter ins Gesicht zu blasen und wurde daraufhin von ihnen fast totgeschlagen. Lau wendet sich in ungewöhnlich ehrlichen Worten gegen die Political Correctness von Jessen: »Ein Deutscher als Opfer von Rassismus – das ist natürlich verwirrend. Und so sind wohl die Versuche zu erklären, das Ereignis umzudeuten, bis es wieder ins vertraute Muster passt: Der auf einer rauchfreien U-Bahn insistierende Rentner sei eine unerträgliche Inkarnation des ‚deutschen Spießers’ und die jungen Männer hätten wohl schon ‚unendliche Gängelungen’ durch seinesgleichen zu erdulden gehabt«. Lau nennt Jessens Argumentation »absurd«.
So geht es in diesem Merkur weiter: Frisch, intelligent und anspruchsvoll wie immer wird auf Tabus und übliche Denkbeschränkungen keine Rücksicht genommen. Schwerpunkt ist die Problematik einer gleichmachenden Gesellschaft mit jedweder Art von »Helden«: Ihr ambivalentes Verhältnis wird von den Herausgebern Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel in ihrer Einleitung klar umrissen: »Man kann den Helden immer weniger dulden, weil er das Prinzip der Gleichheit radikal in Frage stellt – er ist eben kein Mensch wie du und ich. Das ist unverzeihlich, und deswegen sollen heutzutage Helden, wenn es sich nicht gerade um kindgerechte Supermänner oder brave Katzenretter handelt, nicht mehr bewundert, sondern nur noch entlarvt und destruiert werden. Aus Geschichten der Größe sind solche des Schwindels und der medialen Mache geworden.«
Dieser Faden wird von Norbert Bolz weitergesponnen. In seinem Aufsatz fragt er nach dem »antiheroischen Affekt«: »Der Neid ist begierig nach Nachrichten über das Unglück der Großen, weil er ihre Exzellenz nur unter dieser Bedingung ertragen kann. Wissenschaftliche Unterstützung bekommen die Neidischen heute vor allem von den Psychologen, die es verstehen, die großen Taten der großen Männer auf Süchte und Leidenschaften zu reduzieren.« Hegel habe dies vorausgesehen: »Es giebt für den Kammerdiener keinen Helden«, zitiert Bolz den deutschen Philosophen.
Noch nicht einmal die Mehrzahl der durchweg niveauvollen und intelligenten Beiträge kann hier genannt werden. Last but not least noch der Hinweis auf den Text »Der Dandy als Held« von Karin Westerwelle, die 2007 einen bedeutenden Tagungsband zu Charles Baudelaire herausgab. Sie sieht den Baudelairschen Dandy in der Folge derjenigen von Flaubert und Balzac. Auf die Person Baudelaires bezogen, sieht sie dessen »deutende Kraft darin, ein im zeitgenössischen Leben bereits ausgeprägtes Muster modischen Verhaltens und der Selbstdarstellung auf die Künstlerfigur zu applizieren.« Baudelaire als selbstgeschaffener Prototyp des Künstlers als Dandy präsentiere sich nur noch im vivre masqué der Öffentlichkeit. Seine Formen der Eleganz würden zu undurchdringlichen Masken.
Merkur, Zeitschrift für europäisches Denken. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel. Doppelnummer 2009 Heldengedenken. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009, 250 Seiten.